Kent

Erziehung und Umerziehung in ideologischen Organisationen und deren Folgen für Kinder

Stephen A. Kent , Professor der Soziologie an der Universität von Alberta in Edmonton, Kanada

Dieser Artikel wurde ursprünglich in Cultic Studies Review (www.culticstudiesreview.org) ,vol 4, No. 2, 2005, veröffentlicht. Die Wiedergabe hier erfolgt mit Genehmigung.

Zusammenfassung

Dieser Artikel versucht, die Gemeinsamkeiten unter alternativen Religionen und anderen anspruchsvollen Ideologien festzustellen, die erklären, warum es so vielen dieser Gruppen nicht gelungen ist, die Jugendlichen als Erwachsene „im Glauben“ zu halten. Ich stelle die Hypothese auf, dass in Verbindung mit weitergehenden Forderungen, welche die Sektenmitgliedschaft mit sich bringt, die Weisen, auf welche diese Gruppen ihre Bekehrten der ersten Generation resozialisieren, oft die Erziehung der zweiten Generation nicht ausreichen lassen, um die Loyalität in den Jahren, in denen sie selbst Kinder bekommen, sicherzustellen.

Eine unerwartete Folge weitverbreiteter Bekehrungen junger Menschen zu umstrittenen Sekten und sogenannten ‚Kulten‘ in den Sechziger- und Siebzigerjahren war die Austrittswelle deren erwachsener Kinder in den Neuzigerjahren und in diesem Jahrhundert. Obwohl es keine Studien gibt, die systematisch zeigen, wieviele Mitglieder der zweiten Generation den von ihren Eltern angenommenen Glauben aufgegeben haben, ist man sehr dazu gedrängt, einige prominente sektiererische Gruppen von vor dreißig Jahren zu erwähnen, die nun eine beträchtliche Anzahl von Kindern haben, welche den Glauben weiterhin behalten und ihre eigenen Kinder darin aufziehen. Zum Beispiel enthält ein neues Buch des Religionsberichterstatters des San Francisco Chronicle, Don Lattin, Interviews mit vielen Erwachsenen, die mitten in der amerikanischen Sektenexplosion der Sechziger- und Siebzigerjahre aufwuchsen. Lattin fand, dass einige dieser Leute „den Glauben behalten und ihn sogar an die dritte Generation weitergegeben“ hatten (Lattin, 2003:3). Häufiger jedoch waren die erwachsenen Kinder, die den Glauben ihrer Eltern aufgegeben hatten. Das „eine Thema, das sich fast durch alle“ Geschichten zog, die er von diesen erwachsenen Kindern des Wassermannzeitalters sammelte und das wahrscheinlich weithin der Erklärung dient, warum sie sich entschlossen haben, nicht im Glauben ihrer Eltern zu verbleiben, „ist das Gefühl, dass Mamma und Pappa einfach nicht genügend da waren“ (Lattin 2003:240). Während ihre Eltern damit beschäftigt waren, das Evangelium einer Gegenkultur zu verkündigen, wurden die Kinder oft in Tagesheimstätten, Internaten und gemeinschaftlichen Farmen abgegeben. Einige wurden verlassen und missbraucht und verließen die Herde, sobald sie konnten“ (Lattin, 2003:2-3).

Am auffälligsten waren die Austritte der unzufriedenen Kinder verschiedener Gruppenleiter und Gruppeneliten. Unter ihnen ist das erste von westlichen Bekehrten geborene „vollkommene Kind“ der Vereinigungskirche, Donna Collins, die regelmäßig über ihr Leben in Reverend Moon’s Organisation und den Abschied daraus berichtet hat (Lattin, 2003:189-199; Orme-Collins, 2002). Dies hat auch eine von Moons ehemaligen Schwiegertöchtern, Nansook Hong, getan, deren Buch über ihre tragische Heirat mit einem der Söhne Moons ein verwirrendes Bild der Moon-Familie zeichnet (Hong, 1988).

Wenn wir eine andre Gruppe betrachten, so nahm die Rebellion der Leute der zweiten Generation gegen die Missbraucher der ersten Generation bei den Hare Krishnas fast epische Proportionen an, als die jungen Erwachsenen herzzerreißende Geschichten über die Verletzungen in ihrer Kindheit ins Internet stellten (VOICE, 1996) und fast achtzig von ihnen sich in einem Gerichtsverfahren gegen bestimmte ältere Mitglieder und die Organisation selbst zusammenschlossen (United States District Court, 2000; siehe Lattin, 2003:81-95). Sehr ähnliche Dynamiken ereignen sich derzeit mit erwachsenen Kindern der ersten Generation von Mitgliedern der Kinder Gottes, die Anwälte suchen, um ein Gerichtsverfahren wegen der Mißbräuche, die sie angeblich erlitten hatten, in Gang zu bringen. Der neue Biograph der Gruppe, James Chancellor, zog den Schluss, dass fast alle Leute, die in den frühen Siebzigerjahren in der Sekte der Kindern Gottes geboren wurden, die Organisation verlassen hätten (Chancellor, 2000: 242). Seine Voraussage, dass viel mehr Leute der nächsten Kohorte (vermutlich in den späten Siebziger- und den Achtzigerjahren) in der Gruppe bleiben werden, wird sich erweisen (Chancellor, 2000: 242).

Diese Unfähigkeit, die Loyalität der Kinder der ersten Generation zu bewahren, lässt für diese Sekten nichts Gutes erahnen, da „ohne wirkungsvolle Sozialisation eine Bewegung unter zerstörerischen Austrittsraten leiden wird, wenn ihre jüngsten Mitglieder heranwachsen und den Glauben verlassen“ (Stark, 1987 :24). Wenn ich tatsächlich mit meiner Meinung Recht habe, der Austritt der Jugend sei ein Sektenproblem, das quer durch das ideologische Spektrum verläuft, dann muss man sich fragen, ob Gemeinsamkeiten quer durch Glaubensgrenzen Faktoren sein könnten. Im Wesentlichen entfremdet die Weise, wie Sekten, Kulte und anspruchsvolle Ideologien als Einheiten sozialer Kontrolle arbeiten, große Teile der zweiten Generation, deren Mitglieder in Gruppen entweder hineingeboren oder hineingebracht wurden, für die sie sich nicht selbst entschieden hatten. Wenn die Forschung bezüglich den Austritten der zweiten Generation aus größeren Religionen Anzeigen dafür bietet, was sich in den kleineren Gruppen ereignet hat, dann legen die Daten nahe, dass schlechte Beziehungen zwischen Eltern und Kindern häufig zum Austreten der Kinder beitragen, wenn sie alt genug geworden sind, um auszutreten (Hood, et. al., 1996: 98). Es gibt daher offenbar Mängel in der Sozialisierung und Erziehung der Jugendlichen, aber diese Mängel scheinen bei Sekten und ideologischen Gruppen systembedingt zu sein, weil so viele von ihnen bezeugen, dass die Kinder nicht den Fußspuren der Eltern folgen.

Sicher erhöhen oder vermindern die Doktrinen, Glaubensvorstellungen und Praktiken spezieller Gruppen den Inhalt und die Qualität der Erziehung der zweiten Generation, und die einzigartige Chemie von Familienpersönlichkeiten hat Langzeitkonsequenzen für alle betroffenen Teile. Dennoch bietet ein neuerdings vorgestelltes Modell von dem, was der Psychologe Anthony Stahelski „die fünf Phasen sozio-psychologischer Konditionierung“ (Stahelski, 2004) nennt und das von Terroristen und Kulten benützt wird, eine Deutung, in der ich diese Gemeinsamkeiten unter den Bekehrten der ersten Generation identifizieren kann, die vermutlich die Mitglieder der zweiten Generation beeinflussen.

Anthony Stahelskis fünf Phasen sozialpsychologischer Konditionierung

Stahelskis Hauptinteresse galt der Entstehung des Terrorismus. Seine Forschung überlappte sich jedoch mit Studien des Ursprungs der Kulte, da er berichtete: „Terrorismusforscher haben Terroristengruppen mit Kulten verglichen, und sie haben den Schluss gezogen, dass das Kultmodell auf Terroristengruppen anwendbar ist“ (Stahelski, 2004). Dieses „Kultmodell“, das er identifizierte, scheint jedoch seine eigene Schöpfung gewesen zu sein. Das Modell baute auf einigen Konzepten auf (wie Dehumanisierung und Dämonisierung), die in sozialpsychologischer Literatur Gemeinplätze sind, Stahelski gab aber auch dem gemeinhin benützten Ausdruck Deindividualisierung kreative Wendungen und führte offenbar einen neuen Begriff, Entpluralisierung, als Teil seines Resozialisierungsmodells ein. Er argumentierte, dass „sich die meisten Kulte um einen charismatischen Leiter gruppieren“, der „den Anhängern sinnvolle Existenzen verleiht“ und „ihre Zugehörigkeitsbedürfnisse erfüllt“ und dafür „von den Anhängern unbestrittenen Gehorsam verlangt und auch erhält“ (Stahelski, 2004:32). Diese Anhänger oder Rekruten sind „für die fünf Phasen sozialpsychologischer Konditionierung extrem anfällig.“ Es sind dies:

  • Phase 1 – Entpluralisierung: Abstreifen der Identität aller Gruppenmitglieder
  • Phase 2 – Selbst-Entindividualisierung: Abstreifen der persönlichen Identität aller Mitglieder
  • Phase 3 – Entindividualisierung anderer: Abstreifen der persönlichen Identität von Feinden
  • Phase 4 – Enthumanisierung: Identifizierung von Feinden als subhuman oder inhuman
  • Phase 5 – Dämonisierung: Identifizierung von Feinden als Übel (Stahelski, 2004:32)

Als Mittel der Unterscheidung zwischen Typen von Gruppen beanspruchte Stahelski: „Die Enthumanisierungsphase trennt extreme Hassgruppen und Terroristengruppen von gewaltfreien Gruppen, welche Gruppen nicht hinaus-enthumanisieren (Stahelski, 2004:35). Offenbar dämonisieren gewaltfreie Kulte andere nicht, weil diese Phase „das Auftreten von Reue nach mörderischen Aktionen“ unter jenen verhindert, die danach trachten, ihre vermuteten Feinde zu töten (Stahelski, 2004:35). Auch töten gewalttätige Kulte Aussteiger oder ihre Familien nicht (Stahelski, 2004:36). Andererseits treffen sowohl Terroristen als auch Kultrekruten „auf machtvolle Dynamiken, die der Konditionierung zu widerstehen fast unmöglich machen“ (Stahelski, 2004:36).

Stahelski diskutierte nicht Fragen , welche die Erziehung der zweiten Generation betreffen, aber ich weise darauf hin, dass sich diese Phasen in Verhaltensweisen und Einstellungen zwischen Mitgliedern übertragen, die ihre sozialen Beziehungen einschließlich der Beziehung mit Kindern und Jugendlichen einschränken und begrenzen. Tatsächlich schlossen in mehreren Fällen Gruppenleiter Kinder vollständig aus ihren Organisationen aus, die Instanzen extremer Umerziehung sind, welcher die Eltern als ein Standardaspekt der Gruppenmitgliedschaft unterworfen wurden. Ich möchte jede der Phasen Stahelskis untersuchen, gemeinsam mit seiner kurzen Beschreibung von Charisma, ich möchte seine Behauptungen etwas modifizieren und einige Beispiele dafür anführen, wie verschiedene Gruppen die Phasen verwirklichten. Gleichzeitig möchte ich auf Folgen hinweisen, welche die Beispiele für die zweite Generation hatten.

Charisma

Angeblicher Zugang zu einzigartigen, sogar guten, besonderen Mächten und Fähigkeiten ist das Kennzeichen, wie Max Weber es vor fast einem Jahrhundert definierte. Wie Weber schrieb, ist Charisma:

eine bestimmte Fähigkeit einer individuellen Persönlichkeit, mittels derer sie als außerordentlich und mit übernatürlichen, übermenschlichen oder zumindest besonderen außergewöhnlichen Kräften und Fähigkeiten begabt zu sein betrachtet wird. Diese sind so, dass sie für eine gewöhnliche Person als nicht erreichbar, sondern von göttlichem Ursprung oder als exemplarisch gesehen werden, und auf Grund dessen diese Person als ‚Führer‘ betrachtet wird (Weber, 1978: 241).

Stahelski wiederum erwähnte zahllose Merkmale, die charismatische Leiter häufig haben: „Physische Gegenwart, Intelligenz, Erfahrung, Bildung und Expertise, die Fähigkeit, die Vision und die Mission klar in Worten auszudrücken, und am wichtigsten, eine starke emotionelle Anziehungskraft“ (Stahelski, 2004:32). In dieser Liste fehlt jedoch, was in Wirklichkeit der Hauptzug charismatischer Leiter sein dürfte – zumindest bei jenen, die neue Religionen gründen: Verschiedene Grade biopsychosozialer Krankheit – das heißt, Persönlichkeitsstörungen und/oder psychologische Unausgeglichenheit.

Der Ausdruck biopsychosoziale Krankheit beinhaltet dem Umstand, dass einige Leute biologische, hormonale oder genetische Abnormitäten haben, die entweder allein oder gemeinsam mit psychologischen Störungen wiederum einen negativen Einfluss auf ihr Verhalten in der sozialen Welt ausüben. Manche dieser Störungen mögen aus der Kindheit stammen: andere mögen später im Leben ausbrechen. Besonders im Erwachsenenalter mögen diese schwächenden Bedingungen durch Drogen- oder Alkoholmissbrauch gesteigert und/oder verschlimmert worden sein, zugleich mit gewalttätigen oder irrationalen Ideen, die sich innerhalb der religiösen und kulturellen Domäne befinden, in der diese Leute leben (Kent, 2004: 104-109;Roy,2000: 394-395; Whitsett und Kent, 2003:493-494). Leute, welche durch diese Dinge belastet sind, haben krankhafte Wechselwirkungen mit anderen – ihr Verhalten liegt außerhalb des Normalen; sie haben ein ungewöhnliches Selbstwertgefühl; und sie fordern Ehrerbietung von allen um sie herum. Obwohl manche ‚Suchende‘ durch diese schlechten Charakteristiken abgestoßen werden, sehen andere die Gesamtheit ungewöhnlicher Züge als Zeichen spirituellen Charismas an.

Die Geschichte alternativer Religionen ist voll von Leitern, deren Anhänger meinen, dass sie charismatisch seien, denen Außenstehende jedoch krankhafte Persönlichkeitsstörungen wenn nicht Geisteskrankheiten zuschreiben (Stor, 1996). Außerdem können Forscher darüber spekulieren, wie schwierig es für ihre Kinder gewesen sein mag, mit diesen außerordentlichen Eltern zu leben, da diese Kinder die direkten Folgen des gestörten Charismas der Mutter oder des Vaters tragen mussten. Zum Beispiel stellte sich der Gründer der Kinder Gottes, David Berg, seinen ihn anbetenden Anhängern als Gottes Endzeitprophet dar, aber in Wirklichkeit war er wahrscheinlich nur ein nichtexklusiver heterosexueller Pädophile (d.h. er hatte Sex mit Frauen und Kindern). Er war auch Alkoholiker. Ein Sohn, Aaron Berg, starb geheimnisvoller Weise 1972 durch einen Sturz von einem Schweizer Berg , und viele Leute meinen, sein Tod sei ein Selbstmord gewesen (Davis [Linda Berg], 1984: 128-129). Kein Geheimnis gibt es jedoch um Bergs Stiefsohn Ricky Rodriguez, der, Stunden bevor er das Kindermädchen seinen Kindheit (und kurz danach sich selbst) tötete, ein Video hinterließ, in dem er über seine Wut über seine sexualisierte Erziehung sprach [Goldstein, 2005]. Wie Berg scheint auch der Leiter der Branch Davidians, David Koresh, ein nichtexklusiver heterosexueller Pädophile gewesen zu sein. Er weigerte sich, seine zwölf biologischen Kinder während der Belagerung seiner Anlage den Behörden zu überlassen und sie waren schließlich unter den 21 Kindern, die im Feuer starben (Tabor und Gallagher,1995:231 n.22;255). Der Gründer von Scientology, L. Ron Hubbard, wurde wahrscheinlich von Narzissmus und Paranoia geplagt, letzteres verstärkt durch Drogenmissbrauch. (Atack 1990: 119, 131, 171, 372; Kent 2004: 106). Sein Sohn Quentin beging Selbstmord, vorgeblich wegen seiner Homosexualität (ein Lebensstil, den sein Vater verabscheute [Miller 1987:303] ).

Der Gründer der Vereinigungskirche, Reverend Sun Myung Moon, hält sich für den Messias (Chambers 1982), doch einer seiner Söhne, Young Jin Moon, sprang oder fiel im November 1999 aus dem siebenten Stock eines Hotelzimmers in Las Vegas (Schoenmann, 1999). Der Gründer des Tempels des Volkes, Jim Jones, erhielt einst eine psychiatrische Diagnose „paranoid mit Größenwahn“ (Reitermann mit Jacobs,1982: 262) und seine Familie beobachtete ihn, wie er zunehmend in destruktives und betrügerisches Verhalten glitt. Der Druck auf seinen biologischen Sohn Stephan wurde schlimmer, als sich im Zuge der Schäkereien, der Scheinheiligkeit und des Drogenmissbrauchs des Vaters das Familienleben verschlechterte. Dies und andere Nöte trieben den jungen Mann bei zwei verschiedenen Gelegenheiten zu einer Überdosis von Quaaludes (Reitermann mit Jacobs, 1982: 125, 310).

So anekdotenhaft wie diese Berichte sind, ist es doch bemerkenswert, dass mehrere prominente Sektenleiter aus den Siebzigerjahren Kinder hatten, die es nicht ertrugen, im Schatten ihrer charismatischen Eltern zu leben. Dem Druck, ein Kind der „Göttlichen“ zu sein, war einfach schwer zu widerstehen. Charisma bot offenbar einen schlechten Rahmen, Kinder aufzuziehen, und wir können nur spekulieren, warum das so war. Ein wahrscheinlicher Faktor war die Scheinheiligkeit, deren diese Kinder zwischen der öffentlichen Figur und dem privaten Elternteil Zeugen wurden. Donna Collins zum Beispiel, im Teenageralter,

begann hartnäckige Fragen über das zu stellen, was sie in Moons innerem Kreis sah …… „Er und seine Kinder lebten nicht nach der Lehre. Seine Söhne kamen herein und fluchten die ganze Zeit. Sie aßen Steaks, die von Amerika [nach Korea] hereingeflogen wurden. Ich aß drei Jahre lang Reis und Kimchi und wurde ernstlich ruhrkrank. Es war ein Witz. Ich begann mich zu fragen: „Was ist göttlich an dem Ganzen?“ (Collins in Lattin, 2003: 198).

Später möchte ich über den tragischen Fall von David Bergs Enkelin, Merry Berg, sprechen, die einen schrecklichen Preis für das Äußern von Zweifel an der Göttlichkeit ihres scheinheiligen Großvaters zahlte. Bergs familiäre Verhältnisse erweisen sich für Merry Berg, Ricky Rodriguez und andere Kinder, die in diesem inneren Kreis aufwuchsen, als katastrophal, aber die Erziehungs- und Sozialisationsmodelle, die in der eigenen Familie versagt hatten, waren die Grundlage für ebenso verhängnisvolle und missbrauchende Programme, die auf Kinder in der ganzen Organisation der Kinder Gottes angewendet wurden. In verschiedenem Maß führten die verfehlten Muster von Sozialisation und Erziehung innerhalb der Familien charismatischer Leiter zu ebenso katastrophalen Praktiken der Aufzucht und Erziehung von Kindern in ganzen Organisationen (siehe Whitsett und Kent, 2003:493-495). Zahllose Kinder wurden durch ihre Eltern und andere Erwachsene geschädigt. Das Charisma am Grund dieser Organisationen war fehlerhaft wenn nicht zeitweise pathologisch, aber es wurde die Basis, auf der Leiter und ihre Anhänger Sozialisierungs- und Erziehungsprogramme für die Jugendlichen entwickelten und ihnen auferlegten.

Entpluralisierung

Der Ausdruck Entpluralisierung ist nicht einer, den man für gewöhnlich in sozialpsychologischer Literatur findet, aber er vermittelt eine wichtige Dimension des Umerziehungsprozesses vieler Bekehrter. Stahelskis Ansicht ist, dass der „Idealtyp“ einer sozialen Person in einer komplexen Gesellschaft viele soziale Kontakte hat, die alle zur Eigenidentität dieser Person beitragen. Außerdem mögen Leute in einigen Segmenten des Lebens einer Person dieser über andere Dimensionen ihres Lebens Kommentare erteilen oder sie darin beraten. Gruppen mit hohen Anforderungen jedoch sind, wie der Soziologe Lewis Coser schreibt, „gierige Institutionen“ (Coser, 1974), da sie versuchen, alle Aspekte des Lebens ihrer Mitglieder einzukapseln oder einzuwickeln. Wie Stahelski feststellte:

können Kulte die ihr Beigetretenen nicht wirksam konditionieren, wenn nicht die Kultgruppe die einzige Gruppe ist, welcher der Beigetretene angehört. Eine Person, die nur zu einer Gruppe gehört, hat ein Eigenkonzept und ein Selbstbewusstsein, das vollständig von der Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft in dieser Gruppe abhängt. Das völlig abhängige Individuum ist dann bereit zu tun, was immer nötig ist, um die Mitgliedschaft in der Gruppe zu behalten (Stahelski, 2004: 33).

Unter den früheren Gruppenzugehörigkeiten, welche Beigetretene häufig aufgeben, sind ihre Familien (Stahelski, 2004: 33). Obwohl viele Leute erwarten, dass die neuen Rekruten die Kontakte zu den Eltern und Geschwistern aufgeben, findet sich eine ganze Anzahl von Fällen, in denen die Eltern entweder die Bande durchtrennen oder den Kontakt mit den eigenen Kindern stark reduzieren.

Ein handgeschriebene Notiz vom Gründer der Scientology, L. Ron Hubbard, wiedergegeben in einer Zeitschrift der Internationalen Vereinigung der Scientologen, erläutert klar die Pläne der Entpluralisierung, die er bezüglich der Mitglieder hatte:

Wir sind nicht zum Spielen hier. Unsere persönliche Zukunft hängt davon ab, dass wir weitertun und keine größeren Fehler begehen. Es ist nicht die Frage, ob es sonst noch etwas gibt. Es gibt nichts anderes. Niemand kann halb innerhalb und halb außerhalb von Scientology sein. (Hubbard, in CSI [Church of Scientology International], Inc., 1988).

Tatsächlich hat die Ethik der Scientology als eine ihrer Absichten die Eliminierung aller nichtscientologischen Aktivitäten und Interessen auf Seiten der Leute unter ihrer Kontrolle zum Ziel (Hubbard, 1976: 179).

Die Folgen für Kinder, deren Eltern sich vollständig einer Organisation widmen, sind nicht schwer vorherzusagen. Wie es ein ehemaliger Scientologe, der zum Kritiker wurde,1991 formulierte:

Nahe an der Rettung der Welt mag die Sorge um Kinder nicht so wichtig erscheinen. „Scientology kommt zuerst und alles andere ist unwichtig“, sagte der ehemalige Scientologe Vicki Aznaran, der die Organisation gerichtlich verklagt. „Auf Eltern, die Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen, wird herabgesehen. Es wird gesellschaftlich nicht akzeptiert.“ (Aznaran, zitiert in Krieger,1991: 12A).

Eine daraus abgeleitete Folge für Kinder ist, dass sie ein Teil der Anstrengung der Eltern werden können, „die Welt zu retten“. Zum Beispiel brachte eine Zeitung in Florida 1991 einen Artikel betreffend „Scientology’s Kinder“, der berichtete, dass ein elfjähriges Mädchen einen Vertrag über eine Milliarde Jahre unterzeichnete, um Scientology’s engagiertem Corps, genannt die Sea Organization (oder einfach die Sea Org) beizutreten, und schließlich während des Schuljahres etwa 50 Stunden wöchentlich arbeitete (Krueger, 1991: 14A).

Eltern bei den Kindern Gottes erhielten von ihrem Leiter David Berg besondere Instruktionen, sich von ihren Kindern zu trennen, mit der Begründung, dies sei Gottes Wille:

1. GOTT MÖCHTE KEINE ANDEREN GÖTTER VOR IHM HABEN, NICHT EIMAL DIE HEILIGKEIT DES EHEGOTTES!

2. DIE FAMILIENEHE, DIE GEISTIGE REALITÄT HINTER DER SOGENANNTEN GRUPPENEHE, IST DIE, DASS DIE GRÖSSERE FAMILIE, DIE GANZE FAMILIE, DEN ERSTEN PLATZ EINNIMMT, auch gegenüber den letzten Resten privaten Eigentums, dem Gatten oder der Gattin! (Berg, 1972: 1367; originale Großschreibung und Satzzeichen).

Einige Absätze später fügte Berg hinzu:

22. VERGESST NICHT, DAS BETRIFFT AUCH EURE KINDER! Besonders Bevorzugung und Eingenommensein – das ist selbstsüchtiges Eigentumsinteresse! Wenn ihr eure leiblichen Kinder mehr als die Kinder Gottes und die Familie Gottes liebt, dann habt ihr nicht verstanden, was es mit der Familie Gottes auf sich hat! ! (Berg, 1972: 1370; originale Großschreibung und Satzzeichen).

Die Geschichten über die Misshandlung von Kindern durch die Kinder Gottes bestätigen allein buchlange Studien, aber es genügt zu sagen, dass viele Kinder ihre Eltern kaum sahen, und wenn, dann war die emotionelle Bindung sehr angespannt. Wie der einigermaßen sympathisierende Forscher bezüglich der Familie, James Chancellor, berichtet, „blieb Entfernung von den Eltern ein sehr allgemeines Merkmal des Familienlebens [der Kinder Gottes]. Bis zu den Reformen ….. in der Mitte der Neunzigerjahre verbrachte praktisch jeder Anhänger der zweiten Generation vor dem Alter von 16 beträchtliche Zeit von den Eltern entfernt“ (Chancellor, 2000: 217). Es wundert nicht, dass Mitglieder dieser Generation wegen der erlittenen Missbräuche in so etwas wie eine Revolte gegen ihre Elterngeneration verwickelt ist (siehe Kent, 2004a).

Selbst-Entindividualisierung

Dem Konzept der Entindividualisierung ist ausführliche psychologische Literatur gewidmet, ursprünglich als Theorie zur Erklärung antinormativer, oft gewalttätiger Akte entstanden, die von Leuten in Massen, Mobs, Banden und dergleichen begangen wurden (siehe Postmes und Spears, 1998: 238). Eine neuere theoretische Variante, genannt das „soziale Identitätsmodell der ent-individualisierten Effekte“ (in Kürze SIDE-Modell genannt) ist versprechender als alte Formen der Entindividualisierungstheorie, und diese neuere Form mag am besten damit übereinstimmen, wie Stahelski den Begriff Entindividualisierung benützt. „Entsprechende diesem Modell führen Entindividualisierungsmaßnahmen nicht zu einem Verlust der persönlichen Identität: Eher können sie einen Übergang von einer persönlichen zu einer mehr sozialen und kollektiven Identität erleichtern (Postmes und Spears, 1998: 254). Sicher ist dieser Übergang zu einer kollektiven Identität das, was in totalitären Gruppen vor sich geht.

Die Folgen eines solchen Übergangs sind wohlbekannt, und Stahelski führte zahlreiche Beispiele an. Er erwähnte interne Transformationen, welche die Aufgabe von

allen Werten, Glaubensvorstellungen, Standpunkten und Verhaltensweisen umfassen, die von den Werten und Erwartungen der Gruppe abweichen. Entindividualisierte Anhänger geben ihr persönliches Empfinden für richtig und falsch auf, wenn es von dem des Leiters abweicht. Außerdem wird die allgemeine Ansicht der Anhänger von Realität – ihre Ansicht darüber, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenpassen, um die moderne soziale Welt hervorzubringen – mit der des Leiters gleichgeschaltet. Entindividualisierte Personen hören auf, über ihre eigenen einzigartigen Qualitäten nachzudenken. Sie nehmen das Konzept in sich auf, dass sie einfach nur anonyme Teile eines größeren Ganzen, des Kults, sind (Stahelski, 2004: 34).

Eine typische äußerliche Anzeige von Entindividualisierung umfasst gleiche Kleidung (Stahelski, 2004: 34) und Ausschluss von Aspekten persönlichen Geschmacks oder Selbstausdrucks in der Erscheinung.

Obwohl wenige Forscher, die sich mit anspruchsvollen ideologischen Gruppen befassen, mit diesen allgemeinen Charakteristiken nicht übereinstimmen würden, müssen wir noch die Erziehungsprozesse erwähnen, welche Gruppen benützen, um bei ihren Mitgliedern Entindividualisierung hervorzurufen. Wenn wir diese Prozesse angesprochen haben, dann können wir sehen, wie Bildungsprogramme, welche Erwachsene entindividualsieren, auch Kinder beeinflussen. Ich behaupte, dass Gruppen die Werte von angeblich negativen Aspekten im Leben der Leute angreifen und unterminieren und diese gleichzeitig durch neue kollektive Moral- und Ethiksysteme ersetzen, die auf den Werten des Leiters beruhen. Meine Annahme ist hier, dass negative Erfahrungen und negatives Verhalten – Dinge, die wir getan, gesehen oder erlitten haben – individuelle Begründungen für unsere moralischen oder ethischen Entscheidungen bieten. Durch die Unterminierung des Wertes dieser Erfahrungen und dieses Verhaltens vermindern abweichende Gruppen die Fähigkeit der Leute, moralische und ethische Standpunkte auf der Grundlage ihrer eigenen individuellen Erfahrungen einzunehmen. Gleichzeitig verwenden die Gruppen zahlreiche Techniken, um den Leuten die alternativen Werte und ethischen Codes der Gruppe einzuflößen. Wenn die Leute ent-individualisiert werden, schauen sie im Wesentlichen weniger nach innen und mehr nach außen nach moralischen und ethischen Fingerzeigen aus.

Mit den Direktiven der Gruppen untergraben die Leute die Grundlagen ihres eigenen Wertesystems auf verschiedene Weise: Pseudoberatung in individuellen und großen Gruppen; manipulierte Erfahrungen der „Wiedergeburt“, in denen man sein früheres Leben verurteilt; aufdringliche und aggressive Psychotherapie, usw. Eine der zahllosen Gruppen, deren Leiter bei der Herbeiführung der Entindividualsierung meisterhaft waren, waren die Rajneeshees, die diese Ziel durch zahlreiche zeitraubende und energiezehrende pseudotherapeutische Techniken und körperliche Übungen erreichten. Ein britischer Autor, Tim Guest, war ein Kind, dessen Mutter eine Anhängerin von Bhagwan Shree Rajneesh war, und Guest erfasste mit schmerzlicher Klarheit die Folgen für Kinder, welche in dieser Umgebung aufwachsen:

Bhagwan erfand radikal neue ‚dynamische‘ Meditationen und Therapien; er nahm Stickoxyde und sprach von einem Dentistenstuhl; er forderte seine Jünger auf, sich ihm ganz hinzugeben und ihr Leben in die Extreme zu leben. Meiner Mutter, die sich von ihrer strengen katholischen Mädchenzeit auf einer Raketenschiff-Rebellion befand, bot Bhagwan alles, worauf sie lange gehofft hatte; den Weg zur Erleuchtung, aber mit freier Liebe, Drogen und Rock’n‘ Roll dazwischen. Für die Kinder – zumindest für mich – waren die Kommunen Bhagwans ein anderes Angebot. Als sich jeder Erwachsene damit abmühte, sich als möglichst egolos zu erweisen, wetteiferten wir darum, wer die besten Breakdance-Bewegungen ausführen konnte. Als sie den Traum des Konsums aufgaben, kämpften wir um Lego- und ‚E.T.‘-Spielzeug. Mit der Absicht, eine spirituelle Gemeinsamkeit als ein Modell für die Welt aufzubauen, vernachlässigten meine Mutter und ihre Freunde einige der eher praktischen Bedürfnisse der Kinder unter ihren Füßen – zum Beispiel vergessend, mit uns zum Zahnarzt zu gehen oder unsere Fingernägel zu schneiden (Guest, 2004a; siehe 2004b:98).

Die Vernachlässigung durch seine Mutter hatte tiefgreifende lebensverändernde Folgen für ihn und ebenso für andere Kinder, die unter ähnlichen Gefühlen litten:

Als ich geboren wurde, schwor meine Mutter, sie würde ihr Kind niemals das leiden lassen, was sie gelitten hatte; sie fühlte, dass ihre katholische Kindheit sie erdrückt hatte. Sie gab mir, wonach sie sich gesehnt hatte. Sie ließ mich frei laufen. Irgendwann machte ich ein ähnliches Gelübde, meinen Kindern nicht den speziellen Schmerz – von Verzicht und Abwesenheit – zuzufügen, den ich kannte. Auch wenn dies bedeutete, überhaupt keine Kinder zu haben (Guest, 2004a).

Es war eine Geschichte, die sich Tausende Male durch vermutlich Duzende wenn nicht Hunderte von Gruppen wiederholte: Eltern, die versuchten, die Welt zu retten, indem sie sich einem spirituellen Lehrer hingaben, aber währenddessen ihre Kinder vernachlässigten.

Entindividualisierung anderer

Da entindividualisierende Leute sich eher zu anspruchsvollen Gruppen zusammenschließen, intensivieren sie die normalen Prozesse, indem sie durch Entindividualisierung empfundener Feinde „In-Gruppen“ und „Out-Gruppen“ erzeugen. Gemäß Stahelski trennen entindividualisierende Leute den Kontakt mit angenommenen „feindlichen“ Gruppenmitgliedern und verneinen im Wesentlichen ihre Individualität, indem sie sie in eine „homogene gesichtslose Masse“ mischen (Stahelski, 2004:34). Unter den unglücklichsten Opfern dieses Prozesses der Entindividualisierung anderer waren manchmal die Kinder selbst. Im allgemeinen sind Kinder mit dem eigenen spirituellen Streben Erwachsener unvereinbar.

In extremen Fällen definierte die Leiterschaft der Gruppen Kinder als Hindernis für das spirituelle Wachsen und/oder als finanzielle Belastungen, daher wurden die Mitglieder sterilisiert. Obwohl die Aussicht auf Elternschaft unter den Mitgliedern von Heaven’s Gate nicht einmal erwogen wurde, ließen sich acht Männer kastrieren und einige andere „unterwarfen sich chemischen Behandlungen, um ihren Sexualtrieb zu vermindern“ (Balch und Taylor, 2003: 220). Unter den Anhängern von Rajneesh:

wurden Sterilisationen sehr empfohlen …. denn Kinder seien „eine Ablenkung vom Pfad der Meditation“ und „sehr wenige hätten das Karma, um in dieser Zeit des Lebens Kinder zu haben.“ Die Überlegung lautete: Wenn du hier bei Bhagwan bist, warum sich davon ablenken lassen und sich auf eine andere Spur begeben? Die bessere Wahl sei, vollständig mit ihm zu sein. (Strelly, 1987:151-151; Hervorhebung im Original).

Hunderte von Anhängern beider Geschlechter ließen sich sterilisieren, einschließlich „einiger Mädchen im Alter von vierzehn“ (Gordon, 1987:83).

Vor den Sterilisationen hatten viele schwangere Rajneesh-Anhängerinnen Abtreibungen (Guest, 2004b: 30; Strelley mit San Souci, 1987: 149-150), und Rajneesh konnte „prahlen, dass in Rajneeshpuram, seiner Sannyasin-Stadt in Oregon, USA, zwischen 1981 und 1985 kein einziges Kind geboren wurde“ (Guest 2004b: 31). Auch von Mitgliedern einer abweichenden Gruppe in Kalifornien, genannt Center for Feeling Therapy, wurden während ihres zehnjährigen im November 1980 endenden Lebens keine Kinder geboren – dies wurde erreicht durch erfolgreichen therapeutischen Druck auf zahlreiche Frauen, einen Abort vornehmen zu lassen (Ayella, 1998: 28,15, 73, 86-87; Mithers, 1994: 262, 281). Es gibt Zeugenaussagen, dass Scientology Frauen, die ihre Schwangerschaft aufrecht erhalten, aus der Sea Organization entfernt, dass aber schwangere Frauen beträchtlichem Zwang zum Abort unterworfen werden (Tabayoyon, 1994: para. 7-23). Offensichtlich behauptet sie, dass „die Sea Org einfach nicht die Zeit, das Geld und die Mittel hat, um Kinder ordentlich aufzuziehen“ (Tabayoyon, 1994: para.7). In den späten Achtzigerjahren, während ich ehemalige Mitglieder interviewte, die einem kanadischen Sektenführer namens Robin Carlsen gefolgt waren, hörte ich Berichte über zahlreiche Aborte, zu denen Carlsen selbst aktiv ermutigte (Kent [Interviewer] mit Dunston und Dunston [Pseudonyme], 1989: 8-11). In den späten Siebzigern leitete das amerikanische zu einer Religion verwandelte Drogenbehandlungsprogramm Synanon ein Programm der Vasektomie für alle Männer ein, die mindestens 18 Jahre alt und seit mindestens fünf Jahren Mitglieder waren, verbunden mit zahlreichen Aborten an Frauen (Olin, 1980: 251, 265, 273, 275). Bisweilen wurden unter diesen Umständen potenzielle Eltern von ihren Leitern überzeugt, Abort sei wegen ihres niedrigen Niveaus der Spiritualität und mentalen Gesundheit das Beste. Es bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass dies Leiter Druck ausübten und gewöhnlich schwangere Frauen davon überzeugten, dass ihre Föten Hindernisse entweder für die Ziele der Gruppe oder für das Streben der Erwachsenen nach spiritueller Entwicklung sein werden.

Eine entsprechende Lösung des „Problems“ der Kinder, besonders solcher, die vor dem Beitritt der Eltern zur Gruppe geboren wurden, war einfach, sie wegzugeben, was viele Eltern aus ähnlichen Gründen wie jene taten, die abtrieben. Eine unbekannte Anzahl von Frauen im Center for Feeling Therapy gab ihre Kinder weg (Ayella, 1998: 86). Ebenso entschlossen sich 1985 in Ontario, Kanada, fünf oder sechs Mütter, welche dem brutalen Leiter Roch Thériault folgten, bei ihm zu bleiben, um den Preis, ihre Kinder – insgesamt 14 – an eine Kinderwohlfahrtsagentur zu verlieren (Kaihla und Ross, 1993: 176, 162). Ein ehemaliger Rajneesh-Anhänger sagte: „Ich machte die Aufgabe meiner Kinder zu einem moralischen Problem, verkleidete es in Spiritualität“ (zitiert in Lattin, 2003:105).

Der deutlichste Bericht von Kinderweggabe, den ich kenne, kam von einem ehemaligen kanadischen Mitglied einer amerikanischen Gruppe, der Christ Family, deren Mitglieder glaubten, ihr Leiter, Jesus Christus Blitz Amen, sei der Messias. Sie hatte einen kleinen Sohn und eine kleine Tochter, die sie in die Gruppe mitbrachte, und nicht lange nach dem Beitritt war sie auf einem Lager mit älteren schon abgehärteteren Mitgliedern. Sie geriet in ein Zwiegespräch mit einer älteren Schwester, die Mt 10, 34 zitierte: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert….“ Die ältere Schwester setzte fort und sagte etwas wie: „Du musst dich entscheiden zwischen Jesus, Jesus Christus zu dienen, in seiner Mission zu sein, die das Wichtigste ist, was es auf der Erde gibt, oder in die Welt zurück zu gehen und diesen Kindern zu dienen“ (Kent Interview mit Margaret, 1989: 15). Innerhalb einer Stunde hatte sie die Kinder weggegeben, die ihre eigenen Eltern dann einige Jahre lang aufzogen, bis sie die Gruppe verließ. Sie hatte die Fähigkeit verloren, die Gefühle ihrer eigenen Kinder zu achten.

Dieser Verlust der Fähigkeit, mit anderen zu fühlen, ist vermutlich ein Schlüsselelement der Entindividualisierung anderer und keine der Charakteristiken, die Stahelski diskutiert. Im Wesentlichen wurden die Fähigkeiten Erwachsener, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu verstehen, durch Fehlzuschreibung betreffend Charisma, entpluralisierte Aktivitäten – wenn überhaupt welche – mit ihren Familien und beschädigtes Verständnis ihre eigenen Individualitäten schwerstens verdreht. In extremen Fällen missverstanden Erwachsene völlig die Bedürfnisse ihrer Kinder und boten sie sogar charismatischen Leitern an, die sie unter dem Vorwand spirituellen Wachstums und Erziehung vergewaltigten. Fundamentalistische Mormonenväter im amerikanischen Westen geben zum Beispiel routinemäßig ihre jungen, oft minderjährigen Töchter älteren Männern als polygame Ehepartner, ohne Rücksicht auf die sehr realen Möglichkeiten von sexuellem, emotionalem und psychischem Schaden (Kent, in Kürze erscheinend). Mindestens eine Mutter im Branch Davidian Lager gab ihre zehnjährige Tochter an David Koresh, wissend, dass er sie zu einer seiner ‚Bräute‘ machen würde, indem er Sex mit ihr hatte (ABC News, 2003; Bunting und Willman, 1995). Frauen in Österreichs freier Liebe-Kommune Friedrichshof verkuppelten junge Mädchen mit 14 und jagten ihnen sogar nach und schleppten sie zurück, so dass ihr Leiter Otto Mühl mit ihnen Sex haben konnte (Soul Purpose Productions, 1999). Klarerweise hatten diese Frauen, als sie strafbare Vergewaltigungen im Namen des spirituellen Vorteils erleichterten, ebenso wie andere in ihren jeweiligen Gemeinschaften, die diese Dinge sahen, keine Wertschätzung für die emotionellen Bedürfnisse der Kinder.

Das hervorragendste Beispiel von Eltern, welche ihre Unfähigkeit zeigten, (in einer sicher passenden und gesunden Weise) mit ihren Kindern zu fühlen, sind die Massenvergiftungen und -morde, welche Eltern an ihren Kindern in Jonestown begingen. Gemäß dem detailliertesten Bericht über die Jim Jones-Bewegung beim Endereignis in Guyana,

wurden die Kinder als erste nach vorne gebracht. Ein Kindermädchen leitete die Schar und sprach sie mit angespannter Stimme an: „Da gibt es nichts, worüber man sich beunruhigen sollte. Bewahrt alle die Ruhe und versucht, eure Kinder ruhig zu halten. Sie werden nicht vor Schmerz schreien. Es schmeckt nur etwas bitter.“

Jugendliche brüllten und schrien. Einige kämpften und rissen sich von ihren Eltern los. Einigen wurde der Gifttrank mit Spritzen in den Hintergrund der Kehle befördert, von wo der Schluckreflex ihn weiterleiten würde. Eltern und Großeltern schrien, als ihre Kinder starben – nicht schnell und nicht schmerzlos. Die Todgeweihten krümmten sich, sie husteten und würgten, als das Gift zu wirken begann. Einige Minuten lang erbrachen sie sich und schrien, sie bluteten (Reitermann mit Jacobs, 1982: 559).

Es scheint, dass einigen Eltern der Horror ihrer Aktionen klar wurde, aber viele opferten ihre Kinder bereitwillig und halfen bei ihrer Vergiftung. Quellen bieten verschiedene Zahlen, aber zumindest 260 (und möglicherweise sogar 276) Kinder waren unter den 913 (oder 914) Menschen, die in dieser Novembertragödie 1978 starben (Lattin, 2003:96; Wooden 1981:1; siehe Reiterman mit Jacobs, 182: 571).

Während Erwachsene der Sonnentempler auch mindestens sieben Kinder und drei Teenager mit in den Tod nahmen (Hall und Schuyler, 2000: 141, 144), wäre die Anzahl der toten Teenager (im März 1997) noch höher gewesen, hätte nicht ein Mechanismus versagt, der dazu bestimmt war, ein Haus anzuzünden. Offenbar erwachten drei Teenager (gemeinsam mit ihren Eltern) am Morgen, nachdem diese Einrichtung versagt hatte, und den Teenagern wurde klar, was geschehen war und dass die Erwachsenen es wieder versuchen wollten. Sie „sagten ihren Eltern, sie wollten nicht“ durch Feuer zum Stern Sirius gehen, daher erlaubten ihnen die Eltern, draußen zu bleiben, als sie wieder (und diesmal mit Erfolg) versuchten, ihr Haus anzuzünden. „Die Kinder nahmen freiwillig Medikamente, Schlaftabletten, und gingen im Schuppen [in der Nähe des Hauses] schlafen, im Bewußtsein, dass, wenn sie aufwachten, ihre Eltern und ihre Großmutter tot sein würden“, sagte ein Polizeibeamter aus Quebec (Washington Post, 1997). Diese Teenager überlebten, aber der bloße Umstand, dass ihre Eltern und eine Großmutter versuchten, sie zu töten, und sie dann zum Feuertod ihrer Familienmitglieder erwachen ließen, zeigt, in welchem Ausmaß die Entindividualisierung der Teenager durch die Erwachsenen fortgeschritten war.

Enthumanisierung

Nachdem die Gruppenmitglieder die Welt zweigeteilt und die Mitglieder von Gruppen außerhalb entindividualisiert haben, können sie ihnen leicht alle positiven Charakteristiken (wie „moralische Tugend, Intelligenz, Verantwortlichkeit, Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Verlässlichkeit“) absprechen, während sie ihnen völlig negative (wie moralische Degeneration, Dummheit, Unverantwortlichkeit, Unehrlichkeit, Vertrauensunwürdigkeit [und] Unverlässlichkeit“ (Stahelski, 2004) zuordnen. Ferner schreiben Gruppenmitgliedern den anderen unmenschliche animalische Züge zu. Wahrgenommene Gegner werden zu Ungeziefer, Ansteckungskeimen, Geschwüren und Ähnlichem. Daher entwerten Gruppenmitglieder, indem sie andere als untermenschlich betrachten, die Kritik von außen und rechtfertigen alle Aktionen, die sie selbst gegen Menschen außerhalb unternehmen (siehe Stahelski, 2004). Von besonderer Wichtigkeit ist hier das Zeugnis darüber, wie manche Gruppen die jungen Abweichler in ihren eigenen Reihen enthumanisieren, eine wichtige wenn nicht beunruhigende Erweiterung der grundsätzlichen Behauptungen Stahelskis.

Einige Beispiele aus der Krishna-Organisation zeigen, wie Erwachsene, vor allem organisatorische Leiter, Kinder entmenschlichen, oft zu ihrem größten Schaden. Das ehemalige Mitglied Nori Muster, nun schriftstellerisch tätig, nimmt eine Perspektive des Problems ins Visier und stellt fest:

die Hindu-Schriften bieten altertümliche Konzepte über den Platz der Frau, indem sie Frauen mit bedrohlichen Tieren oder Kindern vergleichen. ISKCON könnte sich bemüht haben, die Philosophie für eine westliche Zuhörerschaft des späten zwanzigsten Jahrhunderts zu modernisieren [….], aber [der Gründer] Prabhupada und andere Männer in der Hierarchie vergrößerten statt dessen die chauvinistischen Punkte (Muster, 2004: 13).

Im Wesentlichen sah die ausschließlich männliche Führung ISKCON’s Frauen und Kinder als weniger vollwertige Menschen an und daher als keine Subjekte, die gleich wie Männer zu behandeln waren.

ISKCON-Frauen waren jedoch bessere Literaturverteiler und Geldsammler (Aktivitäten, die sankirtan genannt wurden) als Männer, und die Aufzucht von Kindern beschränkte oder hinderte sie, diese Tätigkeiten auszuführen (da sankirtan normalerweise umfangreiche Reisetätigkeit erforderte). Daher war eine übliche Redewendung unter Krishna-Anhängern in einer ihrer größeren Gemeinschaften, die Kinderaufzucht vorsah: „Wirf die Last von dir und begib dich auf die Reise“ (zitiert in Rochford und Heinlein, 1998:11). Im Wesentlichen waren Kinder „Belastungen“ oder Bürden für die Frauen, die ihre Fähigkeit, für die Organisation zu arbeiten, behinderten.

Der Forscher E. Burke Rochford fügte eine weitere Dimension zum Thema Enthumanisierung von Kindern bei ISKCON hinzu. Er berichtete, dass „bis in die frühen Achtzigerjahre innerhalb von ISKCON geborene Kinder im Allgemeinen als spirituell rein betrachtet wurden ….. Diese Ansicht änderte sich jedoch in der Mitte der Achtzigerjahre, als sich einige Leiter darüber beschwerten, ISKCON’s Kinder hätten sich als wenig mehr als ‚karmies‘ (das sind nichtreligiöse Außenstehende) erwiesen …..“ (Rochford mit Heinlein, 1998: 9). Diese herabsetzende Bezeichnung entstand, als ISKCON-Kinder, die ihr eigenes Schulsystem besucht hatten, nicht so spirituell reine und hingegebene Teenager geworden waren, wie es die Leiter erwartet hatten. Statt die Ergebnisse den Inhalten ihrer Erziehung und dem Verhalten zahlreicher missbrauchender Lehrer zur Last zu legen, beschuldigte die Leiterschaft die Jugendlichen selbst (Rochford mit Heinlein, 1998: 10).

Analoge herabsetzende Bezeichnungen erhielten Teenager der Kinder Gottes, als Erwachsene in dieser Gruppe sich der Tatsache gegenübersahen, dass ihre Erziehungs- und Sozialisierungsbemühungen gegenüber der zweiten Generation auf ernste Probleme stießen. In der Mitte der Achtzigerjahre erkannten die Leiter, dass viele Teenager der Kinder Gottes gegen den Glauben ihrer Eltern rebellierten, und sie richteten in verschiedenen Erdteilen eine Reihe von „Trainingslagern für Teenager“ ein, und zusätzliche „Siegerlager“ oder „Straflager für Teenager“ für die widerspenstigsten Mitglieder der zweiten Generation. Ursprünglich nannten die Leiter diese schwierigen jungen Leute „kriminelle Teens“ (siehe Sara, 1986:73) und schickten die Burschen an ein „Back to the Basics Boys“-Programm (oder BBB-Team) zurück, auch „Detention Teens or Hard Labour Crew“ genannt (Family Services, 1989: 6). Berichte, die ich von ehemaligen Mitgliedern aufgezeichnet habe, zeigen auch, dass viele Mädchen im Teenageralter ebenfalls an verschiedenen Orten (wie Brasilien, Macao und Mexiko [Kent und Hall, 2000:66-67] harte Arbeit geleistet hatten. 1989 veränderten die Leiter der Kinder Gottes den Namen dieser widerstrebenden Teens von „Back to the Basic Boys“ in „The Rotten Apples“ (Family Services, 1989: 7), ein Ausdruck, der beide Geschlechter umfasst und der die Verantwortlichkeit für ihre Rebellion auf die Schultern einiger weniger abweichenden Individuen und weg von der Organisation, ihrer Politik und ihren Praktiken schiebt. Entsprechend entmenschlichter Etiketten wurde nicht der charismatisch kranken Umgebung die Schuld gegeben, in der die Twens aufgewachsen waren und wogegen sie nun Widerstand leisteten, sondern den Einzelnen. Während Stahelski nur der Meinung war, dass Kulte und Terroristen außerhalb befindliche Gruppen enthumanisierten, ist es ebenso klar, dass ideologische Gruppen dies auch auf abweichende Gruppen der eigenen Seite anwenden würden, einschließlich der Jungen.

Dämonisierung

Als Endphase der sozialpsychologischen Konditionierung könnten die Behauptungen von Terroristengruppen und gewalttätigen Kulten, „der Feind sei mit dem Teufel und mit kosmischen Übeln verbunden, das Auftreten von Reue nach mörderischen Aktionen“ verhindern (Stahelski, 2204). Stahelski sah diesen Prozess innerhalb von Terroristengruppen entstehen, aber ein bedrückendes Beispiel von Dämonisierung, das wahrscheinlich dazu benützt wurde, Reue zu verhindern, war 1995 der Mord von zwei frisch Ausgestiegenen und ihrem minderjährigen Sohn durch Mitglieder des Sonnentemplerordens. Offenbar war einer der Leiter der Sonnentempler, Joseph Di Mambro, darüber „empört“, dass das Ehepaar ohne seine Erlaubnis ein Kind hatte und ihm einen Namen gab (Christopher Emmanuel), der dem der Tochter Emmanuelle eines der Leiter ähnelte. Als Vergeltung identifizierte der Leiter das Kind als den Antichrist, und als die beiden Mitglieder des Mörderteams der Gruppe die Familie töteten, benützten sie bei der rituellen Hinrichtung einen hölzernen Pfosten, den sie dem Kind ins Herz trieben“ (Farnsworth, 1995). Diese Art von Mord stimmte mit den Anleitungen des Tempelrituals überein, wie der Antichrist zu töten sei (Hall und Schuyler, 2000:139).

Ein weniger dramatisches aber immer noch beunruhigendes Beispiel von Dämonisierung von rebellischen Kindern ereignete sich in der Organisation der Kinder Gottes. Obwohl die Leiter geneigt waren, hinter jeder Rebellion von Teenagern den Teufel zu sehen (Berg, 1988), sind zwei spezielle Versuche, sie zu dämonisieren, besonders bemerkenswert.

Der erste Versuch in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren betraf David Bergs Enkelin, Merry Berg, die Zweifel an seiner Leiterschaft und an angeblichen göttlichen Verbindungen entwickelte, „da sie ihn wiederholt betrunken, deprimiert, unfähig ordentlich zu essen (wegen Schlund- und Magenschäden durch seinen Alkoholkonsum), sich widersprechende und unerfüllte Prophezeiungen machen sah, während er sie vergewaltigte“ (Kent, 2004a: 63). Statt sich der Weisheit ihrer Wahrnehmung zu stellen, erklärten Berg und sein innerer Kreis, sie sei von Dämonismus befallen (Davidito, 1987), und ließ sie „sechs Monate intensive und eindringliche Anstrengungen durchmachen, um diese Zweifel zu zerstreuen, was Exorzismen, lange Gebetssitzungen, Schläge, Schütteln des Kopfes, Drohungen mit schweren Schlägen und verschiedene Erniedrigungen umfasste“ (Kent, 2004a:63, siehe 64).

Diese gewalttätigen Aktionen vermochten jedoch nicht, ihre Zweifel an ihrem Großvater zu zerstreuen, daher sandte er sie zu einem missbrauchenden Trainingslager für jugendliche Straftäter in Macao, wo „Merry während dreieinhalb Jahren sexuelle und körperliche Angriffe, harte Arbeit, ständige Erniedrigungen und obligates Studium der Lehren ihres Großvaters durchmachte, bis ein Nervenzusammenbruch ihre Einlieferung in eine Klinik notwendig machte“ (Kent, 2004a: 63-64). Im Wesentlichen dämonisierten Berg und sein innerer Kreis seine eigene Enkelin und begingen durch diese Dämonisierung außerordentliche Akte des Missbrauchs und der Gewalt gegen sie.

Einige Jahre später schrieb Berg beim Nachdenken über seinen Kampf mit seiner Enkelin an seine Anhänger: „Und ich erhielt das grauenvollste Bild [von Merry], mit ihrem Mund, der ganz rot war und triefte, blutig wie ein Vampir! Natürlich ist sie nur ein kleiner unwissender Niemand, aber es zeigt sich, wie der Teufel sie benützt“ (Berg, 1992:3). Weil Merry die Autorität ihres betrunkenen und mißbrauchenden Großvaters in Frage stellte, entmenschte und dämonisierte er sie. Diese Tat schuf einen Präzedenzfall für das, was die Leiterschaft der Kinder Gottes eine Dekade später tun würde, wenn erwachsene Kinder der ersten Generation sich in offener Revolte betreffen der Behandlung und des Missbrauchs befänden, die sie selbst erfahren hatten.

Während der Neunzigerjahre und bis in das gegenwärtige Jahrhundert äußerten sich diese jungen Erwachsenen immer mehr darüber, wie das Leben als Kind im Kult ausgesehen hatte. Durch eine Website movingon.org schlossen sie sich zusammen, schrieben über ihre Erfahrungen und nannten angebliche Täter namentlich. Mitten während wiederholten Rufen nach Gerechtigkeit gegen die Erwachsenen der ersten Generation, die ihrer zweiten Generation Gewalt angetan hatten, antwortete die Leiterschaft der Kinder Gottes (nun Die Familie genannt) auf ziemlich dieselbe Weise wie Berg auf die Herausforderung durch jemanden, den er missbraucht hatte – die Leitung dämonisierte die Kritiker. Im September 2002 veröffentlichten die derzeitigen Leiter Maria und Peter Amsterdam ein Sendschreiben, das Abschnitte über dämonische bluttriefende groteske „Agenten der Unterwelt“, genannt die „Vandari“, enthielt. Dem Text zufolge „ist ‚Van‘ aus dem Wort ‚Vandalen‘, ‚dar‘ aus dem Wort ‚dark‘ [dunkel] abgeleitet, und das ‚i‘ der letzten Silbe bedeutet ‚ich‘ für Selbstsucht“ (in Maria und Peter, 203:para. 142). Wegen der Altersreihenfolge einiger der Dämonen im Text gibt es keinen Zweifel daran, dass diese Vandari Kritiker der zweiten Generation waren.

In Passagen, die Jesus zugeschrieben werden, sind diese Vandari „auf die Erde losgelassen. Ihre Mission ist es, jene zu rekrutieren, die sich am festgesetzten Tag dem Sohn des Verderbens unterwerfen und ihn verehren werden. Ebenso versuchen sie, sich Meiner Wahrheit zu widersetzen“ (in Maria und Peter, 2002: para.145). Tatsächlich sind sie scheußliche Kreaturen:

du hast Ratten gesehen, denn sie wohnen mit den Vandari zusammen. Die Vandari bevölkern das Kanalsystem der Erde und leben dort, in der physikalischen Welt ein passender Platz für solche Kreaturen. In der Unterwelt gehören sie zu den niedrigsten Schichten der geistigen Welt, wo sie mit dem Abschaum des Geistes wohnen (in Maria und Peter, 2002: para.146).

Zusammenfassend versuchten die Leiter der Kinder Gottes, wenn sie einem wachsenden Kritizismus gegen ihren charismatischen Führer, gegen seine missbrauchenden Taktiken und gegen die Folgen, die diese auf das Leben der jungen Leute hatten, ausgesetzt waren, die kritischen erwachsenen Kinder der ersten Generation zu diskreditieren, indem sie diese gegenüber den übrigen Gruppenmitgliedern dämonisierten und entmenschlichten. Die Nachricht an die Mitglieder lautete, Kritik um jeden Preis zu verhindern, denn sie käme vom Teufel. Es ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie ein Kult versucht, sich und seinen charismatischen Leiter zu schützen, sogar um den Preis der eigenen Kinder.

Schlussfolgerung

Diese Studie begann mit der Annahme, dass der Misserfolg so vieler sektiererischer Gruppen, ihre Jugendlichen bis zum Erwachsenenalter zu behalten, systemische Probleme der charismatischen Leitung nahelegt. Charisma beruht vielleicht nicht so sehr auf dem Kontakt eines Leiters mit dem Göttlichen, als es ein Anzeichen von biopsychosozialer Erkrankung ist. Es scheint sicher unter einer Zahl von Kindern, die unter der Aufsicht von Eltern leben, die andere für göttlich halten mögen, seinen Zoll zu fordern. Außerdem vereinigen sich Erwachsene, oft solche, die sich aus höchsten Motiven auf spiritueller Suche befinden, mit anderen Anhängern in abgeschlossenen entpluralisierten Welten um angeblich göttliche oder erleuchtete charismatische Figuren. Ihre sozialen Netzwerke sind dicht mit denen anderer Suchender verbunden, aber oft vernachlässigen sie entweder ihre Kinder, da sie nach dem suchen, was für sie wichtiger ist, oder sie befassen ihre Kinder ebenfalls mit der Suche auf eine Weise, in der deren Bedürfnisse nicht im Vordergrund stehen.

Ideologische Gruppen mit hohen Anforderungen bieten verschiedene Techniken, die dazu entworfen sind, dass die Mitglieder ihre persönlichen Identitäten in der kollektiven Form aufgehen lassen, die auf dem Charisma des Leiters begründet ist. Diese selbst-entindividualisierenden Techniken unterminieren die Fähigkeit der Leute, unabhängige moralische und ethische Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig bieten die Techniken Ersatzwerte, welche den Vorrang der Gruppen selbst und der oft kranken Leiter und Gründer betonen. Die Aneignung dieser Techniken benötigt jedoch lange Stunden des Studiums, der Erfahrung und der Praxis, aber wiederum werden Kinder oft vernachlässigt. Tatsächlich entindividualisieren viele Erwachsene andere und verlieren die Fähigkeit des Einfühlungsvermögens mit Kindern in einem solchen Maß, dass Jugendliche Hindernisse wenn nicht Gegner ihres spirituellen Suchens und dessen der Gruppe werden, in welcher die Erwachsenen ihren Träumen nachjagen.

Wenn das Gefühl der Opposition gegen Kinder genügend stark wird, dann werden Erwachsene und sogar Eltern die jüngere Generation in entmenschlichter Weise betrachten. Die Jugendlichen werden zu Bürden oder Belastungen, welche die Erwachsenen loswerden sollten, um mit ihrer „göttlichen“ Arbeit voranzukommen, oder die Erwachsenen stempeln sie als unspirituelle Versager ab, welche die Zeit, Energie und Mittel der Erwachsenen nicht verdient. In extremen Fällen dämonisieren Erwachsene ihre Kinder, wie dies zumindest in einer Gruppe geschah, in der ehemalige Opfer in der Kindheit, nun Erwachsene, Gerechtigkeit für die Verletzungen fordern, unter denen sie gelitten haben. Dämonisierung der eigenen Söhne und Töchter erscheint als eine verzweifelte Maßnahme, als ein Versuch, derzeitige Mitglieder davon abzuhalten zu hören, was ehemalige Mitglieder, die zu Kritikern wurden, zu sagen haben.

Ich habe hier ein trauriges Bild davon gezeichnet, wie die Umerziehung von Erwachsenen, die sich Gruppen anschließen, zu einem Bildungsumfeld für Kinder führt, das auf Vernachlässigung beruht. Sicher erkenne ich, dass dieses Bild kaum für alle Gruppen gilt und dass sogar Familien innerhalb derselben Gruppe Unterschiede in der Praxis der Kinderaufzucht aufweisen werden. Manche Mitglieder der zweiten Generation verbleiben in vielen Gruppen, und wir würden alle Nutzen daraus ziehen zu verstehen, warum manche bleiben während andere weggehen. Andere Gruppen ändern mit der Zeit ihre Praktiken der Kindererziehung , und es wäre wichtig zu wissen, ob diese Gruppen auch gleichzeitig Adjustierungen an jenen Techniken vornehmen müssen, die sie benützen, um Erwachsene umzuerziehen und zu resozialisieren.

Ich möchte keineswegs diese Fragen und Qualifikationen unterbewerten. Es bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass es eine wachsende Menge von Beweisen dafür gibt, dass das Aufwachsen in charismatisch gesteuerten Gruppen mit hohen Ansprüchen für viele Kinder extrem schwierig ist. Vielleicht können wir, indem wir mehr lernen, was diese Kinder durchgemacht haben, eine größere Hilfe für sie sein, wenn sie aussteigen und versuchen, ihr Leben weiter zu führen.

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