Pierre LE COZ

FRANKREICH

Pierre LE COZ

– Professor der Philosophie, Mitglied des Comité consultatif national pour les sciences de la vie et de la santé [Nationale Beratungskommission für Ethik in den Gesundheits- und Lebenswissenschaften],
– Dozent an der medizinischen Fakultät Marseille, Fachbereich Ärztliche Ethik

Entwicklung des Begriffs der Gesundheit und die neuen religiösen Bewegungen

Einleitung

Eine Sektenbewegung erscheint nicht plötzlich im Bereich einer professionellen Tätigkeit wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie könnte das Räderwerk einer sozialen Institution nicht infizieren, wenn ihr dieses in seiner Verfassung total entgegengesetzt wäre. Parallele Glaubensvorstellungen z.B. an Seelenwanderung, an Karmas, okkulte Energien oder Dämonen werden der Gemeinschaft der Wissenschaftler und Philosophen sicher noch lange fremd bleiben: Die Tür zu diesen Institutionen ist ihnen doppelt verschlossen. Um sich verstohlen in den Bereich der Gesundheit einzuschleichen, hat es für die therapeutischen Sekten wohl oder übel dort ein geeignetes Terrain und eine Atmosphäre geben müssen, die für ihr Eindringen in den Gesundheitsbereich günstig war. Die Tür muß zumindest leicht offen gestanden sein.

Unter den verschiedenen Parametern, welche die Infiltration nebuloser Pseudotherapien in die Medizin gefördert haben, denkt man spontan (und nicht ohne Grund) vor allem an den Leidensdruck der Pflegenden. Ohne Zweifel befindet sich das Sanitätspersonal in einem Zustand der Verwundbarkeit, der den harten Bedingungen eines Berufes zuzuschreiben ist, der sie ohne Unterlaß mit einem Universum von leidvollen Erfahrungen konfrontiert: Stöhnende Patienten, Sterbende, weinende Familien, ohne zu sprechen von dem inneren Zwiespalt, der die Pflegenden quält (z.B. Konflikte zwischen dem Chef des Pflegepersonals und seinen Untergebenen usw.) Das Mitleiden bis zur Erschöpfung, der „affektive Vampirismus“ d.h. ein Auslaugen der Gefühle, die Übertragung von Emotionen sind die Faktoren, die die Empfänglichkeit des Pflegepersonals für psycho-mystische Hilfen und das Angebot alternativer Therapien am meisten begünstigen, Alternativen, die ihnen für die leichtere und bessere Erfüllung ihrer Pflichten eine ganze Reihe von neuen Möglichkeiten anbieten. Nichts von dem, was sich als Mittel zur besseren Bewältigung der berufsbedingten Leiden (burn out) darbietet, kann gleichgültig lassen.

Jedoch erklärt diese psychologische Begründung die Verzögerung des erfolgreichen Eindringens der Neuen Religiösen Bewegungen in das Gesundheitswesen noch nicht. Warum hat sich die psychotherapeutische Phrasendrescherei gerade in diesem letzten Jahrzehnt ausgebreitet? Warum hat es bis zur Gegenwart gedauert, bis die Gesundheit das trojanische Pferd der Sekten wurde?

Die Hypothese des vorliegenden Diskussionsbeitrages ist, daß – unabhängig von psychologischen Fakten des Leidens der Pflegenden – ein kultureller Parameter existiert, der die Bereiche der Pflege für ideologische Psychotherapie durchlässig gemacht hat: Die Zunahme der Wirksamkeit des Psychologismus. Man versteht unter „Psychologismus“ die in allen Bevölkerungsschichten verbreitete Tendenz, die Ursachen für Krankheiten in psychologischen Gegebenheiten zu suchen. Wir sind in eine neue Phase der Geschichte der Modernität eingetreten, eine psychologische Modernität, welche die Soziologen einmal „Postmodernität“, ein andermal „Ultra- Modernität“ nennen. Die Tendenz, Krankheiten zu psychologisieren, findet ihr Pendant im wachsenden Erfolg neuer medizinischer Techniken mit psychotherapeutischem Hintergrund (Wahl des Geschlechts des Kindes, Embryo- Übertragung, die einer Frau die Freude verschafft, ein fremdes Kind auszutragen, Hilfe für die Frauen in der Menopause zur Zeugung eines Kindes usw.) Die Vorstellung von Gesundheit reduziert sich nicht mehr auf ihre organische Dimension. Sie bedeutet nach der heutigen Formel „eine gesunde Seele in einem gesunden Körper“. Das beste Mittel, um Krankheiten zu vertreiben sei, die geistigen Kräfte zu stärken, sie wieder mit sich selbst und mit dem Kosmos in Einklang zu bringen. Diese immer mehr in Mode gekommene These ändert die traditionelle Vorstellung von der Gesundheit als „stillschweigendes Funktionieren der Organe“ (Leriche). Die therapeutischen Sekten profitieren von dieser psychologischen Inflation des Gesundheitsbegriffes, die eine immer wachsende Zahl unserer Zeitgenossen zu der Überzeugung bringt, der Zustand der Seele bestimme denjenigen des Körpers, daß z.B. ein Krebs die Folge eines psychologischen Schocks sei.

Die Empfänglichkeit eines Teiles des Sanitätspersonals für Sekten und parallele Glaubensrichtungen erklärt sich im Lichte dieser generalisierten Psychologisierung der Gesundheitsprobleme.

1. Von der hippokratischen zur modernen Medizin

Allzu große Nähe zur gegenwärtigen Situation hindert uns manchmal, die Konturen zu erfassen und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, wenn wir die Phänomene analysieren wollen, die unter unseren Augen ablaufen. Das sicherste Mittel gegen diese Gefahr, von Fall zu Fall für die Realität blind zu sein, ist es, einige Jahrhunderte zurück zu schauen. Im gegenwärtigen Fall handelt es sich darum, die nebulose Psychotherapeutik in einem weiteren historischen Umfeld zu betrachten.

Am Beginn der erwachenden Moderne, vom 17. Jahrhundert an, beginnen Behandlungen von Geisteskrankheiten, Sorge um Glück und Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen vorrangige Themen in der philosophischen Literatur zu werden. Diese neuen Inhalte sind das Grabgeläute einer scholastischen Tradition und des jüdisch- christlichen Dogmas vom Heil durch die Hilfe des Glaubens.

Die Überwindung der Endlichkeit, die Verwirklichung alles Möglichen, Glück hier und jetzt, immer wiederkehrende Themen in der heutigen Sektenrhetorik, sind nicht durch erleuchtete Geister erfunden worden: Sie wurden von den Anstiftern der rationalistischen und laizistischen Modernität gepredigt. Um eine konkrete Vorstellung vom Glauben an die unbegrenzte Macht der menschlichen Vernunft zu geben, der ihre Eroberungs- und Abenteuerlust anstachelte, betrachten wir für eine Weile einen für diese philosophische Revolution signifikanten Schriftsteller: Francis Bacon (1561-1626).

Diesem Londoner Kanzler verdanken wir die ersten Betrachtungen über die Natur und den Einsatz der modernen Wissenschaft, wie sie sich im 17. Jahrhundert in Europa darstellte. Am Schluß eines seiner Hauptwerke, einer Utopie, die den Namen „Die neue Atlantis“ trägt, formuliert Francis Bacon die menschlichen Bedürfnisse folgendermaßen: Die Medizin der Zukunft sollte in der Lage sein, „das Leben zu verlängern, bis zu einem gewissen Grad die Jugend zurückzugeben, das Alter zu verlangsamen, bis dahin unheilbare Krankheiten zu kurieren. (…) Gestalt und Gesichtszüge zu verändern, das Gehirn zu vergrößern und leistungsfähiger zu machen. Einen Körper in einen anderen zu verwandeln, neue Arten zu kreieren, eine Gattung in eine andere zu transplantieren. (….) Die Menschen mit Freude zu erfüllen und in eine gute Verfassung zu bringen“. Diese Zeilen lassen in Bacon den Vorläufer dessen erkennen, was man 4 Jahrhunderte später Biotechnologie nennen wird, d.h. Techniken der Beherrschung und der Manipulation des Lebenden, der Veränderung der genetischen Infrastruktur von Organismen. Nichts scheint seiner Vision entkommen zu sein: Gentechnisch veränderte Produkte, Organtransplantation, Geschlechtsumwandlung, Klonen …

Bei dieser Aufzählung der Großtaten der zukünftigen wissenschaftlichen Medizin ist zu bemerken, daß es sich nicht nur darum handelt, die Gesundheit zu bewahren. Die Möglichkeiten, auf den Menschen einzuwirken, die sich Bacon von den neuen Erkenntnissen über die Funktionen des menschlichen Organismus erhofft, gehen weit über das (negative) Ziel des Erhaltens der Gesundheit hinaus. In Wahrheit haben seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die ersten Erfolge der modernen Wissenschaft sofort in den Köpfen ihrer Vorreiter die Idee aufkeimen lassen, daß eine revolutionäre Medizin nicht nur zur Erhaltung der Gesundheit dienen könnte, sondern auch den Menschen von seinen uralten Frustrationen befreien und die psychologischen Grundlagen seines Wohlbefindens sichern müßte. Die Medizin erhält eine vorher nie dagewesene Aufgabe: „Die Seelen freudig zu machen“.

Bei dieser neuen Zielsetzung der Medizin handelt es sich um nichts Geringeres als um die Umwandlung der Bedingungen menschlichen Lebens. In der Neuen Atlantis kann man noch lesen: “ Das Ziel unserer Institution ist die Ausdehnung der menschlichen Herrschaft bis zu dem Punkt, wo wir alles verwirklichen, was möglich ist (….) „. Das wissenschaftliche Potenzial und seine Verwirklichung erscheinen so als ganz besondere Faktoren, eine Änderung des Blickes des Menschen auf den Menschen. Das vorherrschende (jüdisch- christliche) Bild, das der Mensch von sich selbst hatte, war das einer heruntergekommenen, durch die Erbsünde befleckten Kreatur, die kein anderes Glück als den ihr bestimmten Lebensweg kannte und auf eine eventuelle Glückseligkeit im Jenseits hoffte. Mit der rationalistischen Moderne zeichnet sich eine neue kulturelle Landschaft ab: Der Mensch hört auf, ein Wesen zu sein, welches das Schlechte in sich trägt, er ist nicht mehr „dem Menschen ein Wolf“ (Hobbes). Dank seiner Wissenschaft, seiner technischen Errungenschaften und vor allem dank der Medizin ist der Mensch aufgerufen, ein Gott für den Menschen zu werden.

Bei Descartes findet man die ausdrücklichste philosophische Formulierung dieser grandiosen Vorstellungswelt, die in großen Zügen den Geist der Moderne zusammenfaßt: „Wir müssen uns zum Beherrscher und Besitzer der Natur machen“. Warum auf eine solche Beherrschung abzielen? Weil die Natur der Feind des irdischen Glückes ist. Sie unterwirft die Menschen ihrer blinden Notwendigkeit, ihren unerbittlichen Gesetzen. Sie zwingt dem einen ein unerwünschtes Kind, dem anderen ein mißgebildetes Kind, anderen wieder die Kinderlosigkeit auf. Die Kräfte der Natur unterdrücken, um der Willkür ihres Schiedsspruchs zu entkommen, das war die erfolgreiche Philosophie der Moderne. Wenn man die Gesetze der Natur wissenschaftlich erkennt, hat man die Mittel in der Hand, die Hindernisse zu besiegen, die der Erfüllung des Wunsches im Wege stehen, „einen fröhlichen Geist und gute Lebensbedingungenzu haben“, wie Bacon es ausdrückte.

Im Vorwort zu seinem Discours de la Méthode weist Descartes darauf hin, daß er nur „den Samen dieser heilsamen Wissenschaft ausstreue“. Um deren Früchte zu ernten, bedürfe es mehrerer Jahrhunderte. Und obwohl sie die Tochter dieser neuen Wissenschaft sei, werde die Medizin von morgen einer körperlichen und psychischen Erfüllung dienen, die ihr Ziel weit über die einfache Bewahrung der Gesundheit hinaus erweitern werde. Für sie werde es sich nicht mehr nur darum handeln, wie es in der Tradition des Hippokrates war, organische Mängel zu korrigieren, sondern darum, ein vorher nie gekanntes Wohlbefinden zu fördern. Der grenzenlose Glaube an die Möglichkeit des Verstandes ist gepaart mit einer neuen Vorstellung der menschlichen Lebensbedingungen, wo man das Leben verlängern könne, wo Altern nicht zugleich Leiden bedeuten würde, wo man willentlich schlechte Laune und Melancholie mit neuen, auf das Gehirn euphorisierend wirkenden Pillen verjagen könne. Solcher Art waren die Vorbedingungen dieser Erweiterung des Gesundheitskonzeptes, ihre Ausdehnung von der organischen Ebene auf das psychische Gebiet. Dieser Traum, der heute zum Teil in Erfüllung gegangen ist, hat das Ende des christlichen Zeitalters angekündigt. Pascal hat es vorausgeahnt und er nannte Descartes „unnötig und ungewiß“.

2. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und ihre Verteidigung durch die Vertreter von New Age.

Die Bacon’sche Vorstellung von der Berufung des Arztes wird die ganze Geschichte der Moderne durchlaufen und ihre internationale Absegnung in der Definition der Weltgesundheitsorganisation vom Jahr 1947 finden, das heißt am Beginn einer Periode, wo die Medizin sich erstmalig der Mittel bemächtigt, um diese Ambitionen auch zu verwirklichen: „Die Chronik der Weltgesundheitsorganisation (….) hofft auf dem Weg des menschlichen Fortschritts jene Stationen klar hervortreten zu lassen, die dazu führen, daß alle Völker sich einer Gesundheit erfreuen können, die nicht nur „Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung“ bedeutet, sondern einen „Zustand vollkommenengeistigen, physischen und sozialen Wohlbefindens“. 1

Wenn dieser Bezug der WHO auf einen Zustand erfüllten Seins auch nicht gegen die Religion gerichtet war, so griff er doch nicht weniger auf den Bereich des Heils über, der traditioneller Weise den Religionen vorbehalten war. Vergessen wir nicht , daß das lateinische „salus“ eigentlich „vollkommen“ bedeutet. Bis dahin hatte die Medizin vordringlich die organische Gesundheit im Auge. Was das erfüllte Sein betraf, das der Mensch anstrebt, so war dafür allein die Religion zuständig, Gegenstand der Hoffnung für das Jenseits. Was nun die Religion für das Himmelreich versprach, setzte sich die moderne Medizin zum Ziel für dieses Leben hier. Marylin Ferguson, die Haupt-Theoretikerin der Doktrin von New Age, hatte sich da nicht getäuscht, als sie rühmend diese Definition von Gesundheit durch die WHO als eine kulturelle Revolution bezeichnete, das Vorzeichen für den Eintritt der Menschheit in das, was sie ein „Neues Paradigma“ nannte, eine neue holistische Ansicht vom Menschen, ein neues Schema anthropologischen Verständnisses, das nach 2000 Jahren der christlichen Zivilisation endlich ein Ende setzen würde (c.f. Les Enfants du Verseau: Un nouveau paradigme)

Die moderne Medizin leistet so ihren Beitrag zum Ende der „Ära des Fisches“, sie feiert das Ende des christlichen Zeitalters, vielleicht auch das Ende des klassischen anthropologischen Dualismus, der, indem er Seele und Körper voneinander trennte, die Suche nach dem geistigen Heil von der somatischen Behandlung der Krankheiten abgesondert habe. Bis zur Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hob sich die Gesundheit, – alleiniges Objekt der Medizin – deutlich von dem durch die Religion propagierten Heil ab. Der Arzt versuchte, die körperliche Gesundheit des Kranken wieder herzustellen, der, je nach dem Willen Gottes, gesund wurde oder nicht (in welchem Fall der Priester den Platz des Arztes am Krankenbett einnahm). Nach und nach, von den Jahren 1950/60 an, ist die Grenze zwischen dem, der die Gesundheit des Körpers wiederherstellen hilft, und dem, der für das Seelenheil sorgt, weniger leicht auszumachen. Während nun die Sorge um das Heil der Seelen außer Gebrauch gekommen ist und die Kirchen sich leeren, weitet sich die Psychologie aus und bringt die Ärzte dazu, sich mehr um die Psyche und um die Persönlichkeit des Patienten zu kümmern, ihn nicht auf seine Krankheit zu reduzieren. Die Psychiatrie verbuchte ihre ersten Erfolge während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und partizipierte an der Entwicklung einer Medizin, die getreu den Wünschen Bacons sich vor allem um „einen fröhlichen Geist“ , um die „Wiederherstellung glücklicher Einstellungen“ des Patienten bemühte. Es entstand eine Medizin, die unter anderem ihre Aufgabe in der Linderung psychischer Leiden sah. Es gab sogar Ärzte, die sich in Psychoanalyse versuchten.

Tatsächlich hätten alle Ärzte wie das Pflegepersonal Gründe, der Definition von Gesundheit durch die WHO maßlosen Ehrgeiz vorzuwerfen. Viele Ärzte haben es nicht verabsäumt, diese Unterlassung einzumahnen (“ Ich will gerne den psychologischen Aspekt des Lebens des Patienten in Rechnung stellen, aber verlangt nicht von mir, daß ich ihm einen Zustand vollkommenen Wohlbefindens vorgaukle!“) Übrigens gibt es heute im Bereich des Sanitätspersonals eine sehr lebhafte Abwehrreaktion, die dieser wachsenden Psychologisierung der Therapien entschlossen feindlich gegenüber steht. Für die Vertreter einer rationalen und wissenschaftlichen Medizin muß die medizinische Behandlung eine Sorge um die körperlichen Defekte bleiben. Und wenn der Patient einen Priester nicht mehr für genug glaubwürdig hält, muß er sich in die Ordination eines Psychiaters begeben. Es ist nicht Aufgabe eines Arztes, das psychische Gleichgewicht eines Patienten wieder herzustellen: Jedem seinen Kompetenzbereich.

Immerhin zeigt uns die gegenwärtige Erfahrung der medizinischen Praxis, daß diese Ablehnung der „holistischen“ Behandlung von Kranken keineswegs einhellig ist. Die wissenschaftliche Medizin wird heute von einer zweiten Strömung medizinischen Denkens angefochten, nach der die Praktiker die psychischen Probleme ihrer Patienten ernster nehmen sollen. Einige Mitglieder der Ärzteschaft zeigen sich für diesen „maximalistischen Zugang“ zur Gesundheit als „Zustand vollkommenen Wohlbefindens“ empfänglich. Ein Teil von ihnen ist seither überzeugt, daß man den Kranken nicht auf seine Krankheit reduzieren darf, sondern daß man sich für die psychischen Hintergründe der Erkrankung interessieren muß. Eine Minderheit geht sogar noch weiter und denkt, dass die Sorge um die psychischen Defekte das Wesentliche an der medizinischen Behandlung sein muß, indem sie von der (ehrlich gesagt sehr zweifelhaften) Überzeugung ausgeht, dass Krankheiten oft psychosomatisch sind („das spielt sich in Ihrem Kopf ab!“; „Verbessern Sie Ihre innere Einstellung und Ihre Schmerzen werden verschwinden“; „Ihr Kind hat so oft Ohrenentzündungen, weil es genug hat von der Streiterei seiner Eltern“ usw.) 2

3. Die heutige Psychologisierung der Medizin

Die internationale Definition von Gesundheit als „Zustand vollkommenen Wohlbefindens“ hat ein neues Verständnis der „Gesundheit“ in Bezeichnungen wie „psychische und körperliche Entfaltung“ prophezeit, die sowohl ein Gemeinplatz als auch zugleich ein Gesetzesartikel geworden ist. Davon zeugt unter anderem die Art, wie das französische Gesetz aus dem Jahr 1975 formuliert ist, das sich auf die Abtreibung bezieht: „Jedes menschliche Leben muß von der Zeugung an geschützt werden. Jedoch ist eine Frau in bestimmten Notsituationen…“ berechtigt, ihre Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Wir weisen darauf hin, daß diese „Notlage“ nicht im psychiatrischen Register aufscheinen muß, um als Begründung anerkannt zu werden. Wenn es richtig ist, daß Schwangerschaft keine Krankheit ist, muß man anerkennen, daß der Arzt im Namen eines psychologischen Motivs legal intervenieren kann. Im gleichen Zeitraum haben sich die Techniken der pränatalen Diagnostik entwickelt. Zum Beispiel erlaubt die Amniocentese [Pränataldiagnostik zur Fruchtwasseruntersuchung] das Erkennen der Erkrankung des Fötus an Trisomie 21 [Mongolismus]. Natürlich ist evident, dass mit dem Angebot der Abtreibung an das betroffene Elternpaar nicht die Gesundheit des ungeborenen Kindes angestrebt wird. Es handelt sich nicht um Pflege, sondern um das Beenden der Existenz des Kindes. Das ethische Motiv für die medizinische Unterbrechung der Schwangerschaft ist das Mitleid mit der Notlage des Elternpaares, das wegen der Mißbildung des Fötus verzweifelt ist.

Es fehlt nicht an ethischen Begründungen für die Befürwortung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs: Die einfache Tatsache, dass dieser helfen soll, unnötige Leiden zu vermeiden, genügt, um ihm eine solide und überzeugende Rechtfertigung zu verschaffen. Aber so war es schon immer: Jede Lösung eines Problems erzeugt wieder ein neues Problem. Von dem Moment an, als die Medizin sich der Behandlung psychischer Defekte zuwandte, wußte sie nicht, wie weit sie auf diesem Weg gehen sollte. Wo beginnt und wo endet die Notlage? Wer erlaubt es, darüber zu entscheiden? Ist ein depressiver Zustand eine „Notlage“? Angenommen, wir akzeptieren diese Charakterisierung, könnten wir uns über die Bedeutung des Wortes „Depression“ einigen? Es gibt sehr intensive, aber punktuelle Verzweiflungen, aber auch andere, die weniger stark, jedoch versteckter und quälender sind.

Eines ist sicher, mit dem Eindringen in den psychotherapeutischen Bereich hat sich die Medizin auf ein heikles Terrain begeben. Vor einigen Jahren wurde in den Niederlanden eine Frau auf ihr Verlangen euthanasiert, weil die psychiatrischen Experten ihre Depression als unheilbar bezeichneten. Während des letzten Jahrzehnts hat es in den Vereinigten Staaten und sogar in Europa (Birmingham in England und Gent in Belgien) Reproduktionsmediziner gegeben, die den zukünftigen Eltern gestatteten, das Geschlecht ihres Babys zu wählen, dank einer Technik, die es erlaubt, Spermatozoen auszusuchen. Die vorgebrachte „medizinische“ Begründung ist „Family Balancing“ oder „Familiäres Gleichgewicht“. Man befindet, daß es für die gefühlsmäßige Entfaltung der Mitglieder einer Familie von Vorteil ist, wenn die Nachkommenschaft nicht zu sehr von ein und demselben Geschlecht ist. Zum Beispiel ist es vorzuziehen, daß es in einer Familie mit vier Kindern zwei Knaben und zwei Mädchen gibt. Wenn eine Frau ein Kind mit dem erwünschten Geschlecht bekommt, wird sie den Neuankömmling nicht mit dem Ärger belasten, den sie empfunden hätte, wenn sein Geschlecht nicht ihrem Wunsch entsprochen hätte.

Ebenso, wenn bei einem Ehepaar beide Partner unfruchtbar sind, erlaubt es das französische Gesetz, daß ein im Gefrierbehälter übriggebliebener Embryo mit dem Einverständnis des Elternpaars, das die Implantation nicht wünscht, in den Uterus der unfruchtbaren Frau eingepflanzt werden darf. 3 Das heißt, daß die Reproduktionsmedizin wissentlich Kinder erzeugt, die genetische Waisen sind. Das erste Kind dieser Art wird in Kürze in Frankreich zur Welt kommen. Mit welcher Motivation würde eine Crew von Reproduktionsspezialisten diese Art von „gelenkter“ Geburt gestatten, außer um der Mutter zu ermöglichen, die Gegenwart ihres „Waisenkindes“ in ihrem Bauch zu fühlen? Was hier zählt, ist ein rein psychologisches Element, das schöne Erlebnis der Schwangerschaft.

Diese wenigen Fälle illustrieren die psychotherapeutische Ausrichtung der Medizin. Hier sind wir wirklich auf dem Weg des Verständnisses von „Gesundheit“ als „psychische und körperliche Entfaltung“, die von Bacon und Descartes zum ersten Mal erwähnt worden ist und die durch die Definition der Weltgesundheitsorganisation sanktioniert wurde.

Zusammenfassung

Durch diesen schematischen Überblick versuchten wir zu zeigen, wie die moderne Medizin von sich aus die Tore für das Eindringen der psychologistischen Thematik einer holistischen Verwirklichung des Menschen geöffnet hat. Die Grenze zwischen der Gesundheit des Körpers und der Gesundheit der Seele wurde im Lauf der Geschichte der Moderne immer mehr aufgeweicht. Von der Vermischung der Genres, die sich schließlich ergab, und von dem Schwanken zwischen Therapie und Psychotherapie, das sich in den Köpfen abspielte, profitieren die Gurus, die schnell die Bresche erkannt haben. Diese können sich nun als „Ärzte anderer Art“ präsentieren, die mit sanften Methoden und vergessenem traditionellem Wissen zu heilen verstehen.

Die Gleichsetzung von Gesundheit mit einem Zustand organischen Gleichgewichts ist der Schwerpunkt der Medizin. Wird sie sich in den kommenden Jahrzehnten mehr und mehr davon entfernen? Mehrere Möglichkeiten zeichnen sich ab: Entweder suchen die Ärzte bei den Psychotherapeuten esoterische Hilfen, um die „holistische“ Dimension der Patienten zu berücksichtigen. Oder aber sie lehnen es ab, für den Mythos einer totalen Gesundheit zu bürgen und zeigen ohne Zweideutigkeit die Grenzen ihrer Kunst auf.

Dieser zweiten Lösung käme natürlich das Verdienst zu, die Grenze zwischen Therapie und Psychotherapie wieder klar zu ziehen und nur den klinischen Psychologen die Sorge um die Seele anzuvertrauen, während sich der nicht-technische Teil der Medizin auf ethische Bedenken beschränken soll. Indessen darf man nicht aus den Augen verlieren, daß die (an sich legitime) Ablehnung eines psychosomatischen Misch-Masch- Gesundheitskonzeptes ebenso kontraproduktiv werden kann wie ihr übertriebenes Gegenteil. Die radikale Ausklammerung des psychologischen Aspekts der Beziehung zwischen Arzt und Patient hat einige rationalistische Mediziner zu Mechanikern des Körpers werden lassen. Der Patient wird zur Maschine, auf deren defekten Teil sich die Aufmerksamkeit des Technikers konzentriert.

Auf diese Weise mit seiner Verwirrung alleine gelassen, wird der Patient eine leichte Beute für Verkäufer von alternativ-medizinischen Praktiken, bei denen er Gehör für seine Nöte, Nähe, persönliche Betreuung, Taktgefühl und Zuneigung findet. Darum wäre man im Unrecht, wenn man die ungereimte Eigenart der Pseudo-Therapien verhöhnte. Spinoza empfahl, „weder zu lachen noch zu weinen, sondern zu verstehen“.

Als Mittel gegen diese gegensätzlichen Übertreibungen, die wir dargestellt haben, die Psychologisierung auf der einen, die Mechanisierung auf der anderen Seite, empfiehlt sich kritischer Rationalismus, zu dem Kant 1781 in seiner Schrift Kritik der reinen Vernunft den Grund gelegt hat. Dieser deutsche Denker hat uns den immer noch gültigen Gedanken hinterlassen, daß Vernunft unvernünftig, daß sie arrogant und dogmatisch werden kann. Die modernen Ideologien im Einflußbereich von Wissenschaft und Medizin haben gezeigt, daß Glaube nicht unbedingt nur eine Sache der Scharlatane ist. Unbewußte Glaubensüberzeugungen gibt es auch bei denen, die sich rühmen, die Werte der Vernunft zu verteidigen. Welche Irrationalität ist subtiler als der Glaube an die Allmacht der Vernunft?

Marseilles, März 2004

Anmerkungen:

1 Chronik der Weltgesundheitsorganisation, Konstitution und Strukturen, Band I, 1947, Edition WHO, New York Seite 2

2 Während die Konsumation von täglich einemPäckchen Zigaretten durch 15 Jahre das Risiko an Krebs zu erkranken auf das 25fache erhöht, beträgt die Zunahme des Krebsrisikos durch einen traumatischen Schock nur 0,2 %.

3 Die Verordnung über die Annahme des menschlichen Embryos, vorgesehen für 1994, ist am 2. Nov. 1999 veröffentlicht worden; – über die Details dieser Regelung zu: Gesetzgebung, Zwang, Schwierigkeiten und Zweideutigkeiten der Weitergabe von Embryonen vgl. B. Foliguet « La réglementation de l’accueil d’embryons : législation, contraintes, difficultés et ambiguïtés du don d’embryons en France » in Reproduction humaine et hormones, Volume XIV n°6, éditions ESKA, 2001 p.p. 416- 419.