Josep Mª JANSÀ

SPANIEN

Josep Mª JANSÀ

– Arzt, Medizinischer Forscher und Koordinator bei AISMiguel PERLADO

– Psychologe und Psychotherapeut, Mitglied der AISAIS : Atención e Investigación de Socioadicciones (Beachtung und Erforschung sozialer Abhängigkeiten)

Die Sekten unter der Perspektive der sozialen Abhängigkeit

Einleitung

Seit ihrer Gründung 1977 konzentriert die AIS als eine Pionierorganisation in Spanien, die Informationen und Beratung über Kulte bietet, ihre therapeutischen Aktivitäten auf durch Kultanhängerschaft hervorgerufene Störungen.

Eine unserer wichtigsten Prioritäten orientiert sich daran, in Kultgruppen-bezogenen Fällen Hilfe zu leisten, doch wir behandeln auch Fälle im Zusammenhang mit unethischen Situationen intensiver interpersonaler Beeinflussung in „Zweiergruppen“ (Situationen einseitiger persönlicher Manipulation, ohne dass eine Gruppe existiert).

Unter den Situationen einseitiger persönlicher Manipulation ragen solche Hilfsgesuche heraus, die mit emotionalem Missbrauch innerhalb einer Paar- oder therapeutischen Beziehung und mit Manipulation über Internetforen zusammen hängen. Zwei Besonderheiten dieser Arten von Fällen sind, dass sie uns zum einen erlauben, die Dynamik der Wirkung von Beeinflussung auf eine Person besser einzuschätzen, und zum anderen lässt sich eine bestimmte Komponente pathologischer Abhängigkeit in allen von ihnen genauer bestimmen (insbesondere Abhängigkeit vom Missbrauchenden, Therapeutenabhängigkeit und andere affektive pathologische Abhängigkeiten).

Gleichzeitig haben solche Fälle allmählich das therapeutische Gebiet anderen Hilfsgesuchen gegenüber geöffnet, allen voran zwanghaftes Verhalten in Bezug auf Sexualität und Internet, wo der Manipulationsfaktor entweder nicht oder in kleinerem Maße vorhanden ist, wo es aber möglich ist, dieselben Symptomtypen einzuschätzen, die auch in Kult-bezogenen Situationen erlebt werden.

Ein Teil dieser Fälle wirkt wie die Evolution eines Kultproblems (besonders zwanghaftes Sexualverhalten bei Menschen nach Verlassen religiöser Kulte), während das zuvor genannte zwanghafte Verhalten in anderen Fällen das primäre Problem auszumachen scheint, ohne das Vorhandensein einer manipulativen Quelle.

Das zunehmende Vorkommen solcher klinischer Situationen, scheinbar anders als bei Kultproblemen, hat die Therapeuten der AIS dazu geführt, die von ihr angebotene Hilfeleistung dahin gehend neu zu bewerten, dass das Arbeitsgebiet um die Einbeziehung von Dienstleistungen und Fachleuten ausgeweitet wurde, die sich drogenungebundenen Suchtsituationen annehmen, welche mit den Komplikationen der Kultanhängerschaft gewisse symptomatische Ähnlichkeiten zu haben scheinen.

Der derzeitige Anstieg dieser Störungen in unserer Gesellschaft, die Feststellung gemeinsamer Verknüpfungen in der Mehrzahl dieser Abhängigkeiten, die begrenzte Verfügbarkeit spezialisierter therapeutischer Ressourcen und die an unsere Institution gerichteten Hilfsgesuche – all das rechtfertigt es, unseren Aktionsradius auf eine breite Palette von drogenungebundenen Suchterscheinungen auszuweiten.

Ansätze der Kult-Diagnostik: Gedankenreform und dissoziative Zustände

Die Psychiatrie als Disziplin scheint an den psychopathologischen Komplikationen von Kulten wenig interessiert zu sein, lediglich ein paar Fachleute haben begonnen, sich für diesen Bereich zu interessieren.

Das den angebotenen diversen diagnostischen Ansätzen zugrunde liegende Modell ist das Modell der Gedankenreform, eng damit zusammen hängen das dissoziative Modell (Gedankenreform wäre eine Form eines dissoziativen Zustands) und das Abhängigkeitsmodell (Gedankenreform bereitet Abhängigkeit den Weg).

In der ersten Erklärungslinie (Gedankenreform) finden wir Ansätze wie den von West & Singer (1990), der dabei half, das Cult indoctine syndrome abzugrenzen. :

  1. plötzliche, drastische Veränderung der Wertehierarchie des Opfers;
  2. Abnahme der kognitiven Flexibilität und Anpassungsfähigkeit;
  3. Einschränkung und Abstumpfung des Affekts;
  4. Regression;
  5. körperliche Veränderungen und
  6. es können in manchen Fällen eindeutige psychopathologische Veränderungen auftreten.

In der zweiten Erklärungslinie (dissoziatives Modell) gibt es einen deutlichen Bezug zur atypischen Dissoziativen Störung. Die Recherchen von Galper (Galper, 1983) geben inhaltlich weiteren Aufschluss über die dissoziative Störung im Zusammenhang mit den Komplikationen von Kulten:

  1. Verlust der Identität;
  2. psychologische Regression;
  3. außergewöhnliche Einschränkung und Intensivierung im phänomenologischen Bereich der bewussten Aufmerksamkeit und
  4. die Gruppendynamik hat die Entwicklung persönlicher Individualität und Einzigartigkeit entwertet.

Ein einmaliger Ansatz wurde von Sirkin (1990) verfolgt, der vorschlug, die Verwicklung mit Kulten in der diagnostischen Kategorie der Beziehungsprobleme (als eine Art außerfamiliärer Beziehungsprobleme) zu klassifizieren:

  1. die Verwicklung eines Patienten in eine Gruppe oder Organisation ist durch vermindertes autonomes psychisches Funktionieren (außerhalb des Gruppenkontextes) charakterisiert;
  2. der Verwicklung des Patienten in die Gruppe wurde durch unzureichende und unvollständige Bekanntgabe der Gruppenlehren, -weltanschauungen und -ziele Vorschub geleistet und
  3. der Verwicklung des Patienten ging in den letzten 6 Monaten keine psychotische Störung voraus.

Offensichtlich sind andere, mit diesen beiden diagnostischen Ansätzen einhergehende psychopathologische Komplikationen, die unter den Anhängern auftreten können, nicht auszuschließen.

Kultanhängerschaft und Suchterkrankungen

Das therapeutische Team der „Atención e Investigación de Socioadicciones“ (AIS) arbeitet auf eine verbesserte diagnostische Abgrenzung des vorliegenden Problems hin. Das Modell, anhand dessen in diesem Fall der psychopathologische Zustand des heutigen Anhängers beschrieben wird, ist das der Sucht.

In der Tat ist dieser Vergleich weder metaphorisch noch neu, wenn man beachtet, dass andere Kultexperten auf Verknüpfungen zwischen beiden Phänomenen hingewiesen haben, entweder basierend auf empirischer Untersuchung der Art und Weise, wie Organisationen, die Drogensüchtigen zu helfen suchen, dazu neigen, eine Art kompensatorische Abhängigkeit zu schaffen (Galanter, 1980; Halperin & Markovitz, 1991; Rebhun, 1983), oder basierend auf der Hypothese, dass bestimmte Kultrituale dieselben Hirnmechanismen stimulieren sollen wie Drogen, was die Ausschüttung von Dopamin und bestimmten Endorphinen betrifft (Galanter,1980).

Allgemeiner ausgedrückt ist der Gedanke, dass Kulte dazu neigen, einer intensiven Abhängigkeit Vorschub zu leisten, in der von verschiedenen Experten übereinkommend erreichten Definition dessen, was einen „Kult“ ausmacht, enthalten: „Gruppe oder Bewegung, die eine großartige oder exzessive Hingabe oder Ergebenheit zu einer Person, Idee oder Sache zur Schau stellt und unethische manipulative Techniken der Überredung und Kontrolle einsetzt (Isolation von ehemaligen Freunden und Angehörigen, Entkräftung, Einsatz spezieller Methoden zur Erhöhung von Beeinflussbarkeit und Unterwürfigkeit, ausgeprägter Gruppendruck, Filterung von Informationen, Unterdrückung von Individualität und kritischer Urteilsfähigkeit, Förderung der totalen Abhängigkeit von der Gruppe und der Angst, sie zu verlassen usw.), die entwickelt wurden, um die Ziele des Gruppenführers voranzubringen und zum gegenwärtigen oder möglichen Schaden von Mitgliedern, deren Angehörigen oder der Gemeinschaft.“ (Langone, 1985) (Hervorhebung vom Autor)

Im Spanischen gibt es phonetische Ähnlichkeiten zwischen „Anhänger“ und „Süchtigem“ (es gibt im Spanischen die beiden Wörter „adepto“ und „adicto“, die die Verknüpfung einer Person zu einem Kult oder einer Droge ausdrücken). Doch es gibt eine Reihe weiterer klinischer Phänomene, die diese Überlegung nahe legen:

  1. Drogensüchtige geben ihre Sucht oft im Gefüge eines Kults auf;
  2. manche Rehabilitationsgruppen weisen kultische Züge auf;
  3. Ähnlichkeiten im nach Absetzen der Droge (oder Verlassen der Gruppe) empfundenen Unbehagen;
  4. Zustände der De-Personalisierung, die sowohl Süchtige als auch Kultanhänger erleben;
  5. Verknüpfungen zwischen emotionalen und Kulterfahrungen, auf die ehemalige Anhänger hinweisen
  6. Und die Austauschbarkeit bestimmter Süchte.

In ihrer Studie über kultische Merkmale von Organisationen, die Drogensüchtigen zu helfen suchen, haben Rodrígez & González (1989) andere interessante Parallelen zwischen substanzgebundenen Süchten und Kultanhängerschaftklar herausgearbeitet. Für diese Autoren gibt es in beiden Fällen:

  1. vorausgegangene Phänomene, die mit neuen Elementen in der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts wieder an die Oberfläche kamen;
  2. schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit;
  3. kein spezifisch vorhersagbares Profil, das eine Feststellung darüber erlauben würde, wer zum Süchtigen oder Kultanhänger wird und
  4. sind Jugend und Kindheit Phasen größerer Anfälligkeit für eine Anwerbung; emotionale Krisen (häufig Trauer) können die Anfälligkeit vergrößern.

Kultanhängerschaft und drogenungebundene Bindungssüchte

Das klinische Suchtmodell geht weit über Süchte nach exogenen Substanzen (Drogen) hinaus, so gesehen finden wir neben diesen auch

  1. Sucht nach endogenen Substanzen, z.B. sportliche Betätigung und
  2. psychologische Sucht, zu der wir bestimmte affektive oder finanzielle Abhängigkeiten zählen könnten; zu dieser Gruppe zählen wir auch neue Formen der Abhängigkeit, wie z.B. Internet- oder Sexsucht.

In der Tat hat die derzeitige Erweiterung der Definition von Sucht dazu geführt, Patienten, die an keiner Substanz hängen, als süchtig zu diagnostizieren. Tatsächlich fangen manche Autoren an, über „Verhaltenssüchte“ oder „psychologische Süchte“ zu sprechen, um auf ein breites Portfolio an drogenungebundenen Süchten zu verweisen.

In Übereinstimmung mit Marks (1990) können wir die Gemeinsamkeiten zwischen Drogensucht und Verhaltenssucht umreißen, indem wir sie beschränken auf:

  1. ein Begehren, kontraproduktive Aktivitäten auszuführen;
  2. einen Zustand der Anspannung, wenn die Aktivität nicht ausgeführt werden kann;
  3. eine Befreiung von der Spannung nach Ausführen der Aktivität;
  4. ein neuerliches Begehren, die Aktivität auszuführen, nachdem eine variable Zeitspanne vergangen ist;
  5. die Anwesenheit einzelner externer Anzeichen für jede Sucht und
  6. eine angenehme Stimmung in den ersten Momenten der Sucht.

Andere Autoren (Echeburúa, 2003; Larger, 2001) erweitern die Bandbreite der drogenungebundenen Süchte auf: Esssucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Sexsucht, Internetsucht oder Sportsucht. Jedoch gibt es bis zum heutigen Zeitpunkt keine ausreichenden Forschungsergebnisse, um für die meisten von ihnen spezifische diagnostische Kriterien etablieren zu können.

Trotz der Widersprüche in der Forschung scheint der Gedanke, dass bestimmte Aktivitäten oder Beziehungen suchterzeugend werden können, für therapeutische Begriffe und bei manchen Menschen und unter bestimmten Bedingungen dort plausibel, wo sie bedeutende persönliche, familiäre, berufliche und soziale Störungen bewirken.

Der diagnostische Ansatz der AIS

Bei einer beachtlichen Zahl der in unserer Einrichtung behandelten Fälle sind die Symptome, die bei gegenwärtigen Kultanhängern auftreten, vergleichbar mit denen, die in Suchtbeziehungen beobachtet werden. Wir wiesen darauf hin, dass, über das dissoziative Modell hinaus und einhergehend mit den Prozessen der Gedankenreform, das symptomatische Profil des Anhängers den Suchterkrankungen zugeordnet werden kann (Gruppensucht oder Kultsucht).

Wir sind zu einer kompakten Systematisierung gekommen, die wir aus unserer Arbeit gewonnen haben, und die kürzlich wie folgt unter der provisorischen Bezeichnung der Gruppenabhängigkeitsstörung definiert wurde, welche diagnostiziert wird, wenn mindestens sieben der nachfolgenden Kriterien zutreffen (Cubero, 2001):

  1. Exzessive der Gruppe gewidmete Zeit (mindestens eins der folgenden Kriterien):
    1. die der Gruppe gewidmete Zeit neigt dazu, progressiv zuzunehmen,
    2. exzessive Abnahme der Zeit, die Familie, Arbeit oder sozialen Beziehungen gewidmet wird.
  2. Die Person reagiert sehr irritiert oder ängstlich, wenn sie an Gruppentreffen oder -aktivitäten nicht teilnehmen kann.
  3. Die Person zeigt intensive Zugehörigkeitsgefühle der Gruppe und ihren Mitgliedern gegenüber.
  4. Veränderungen in der Einstellung gegenüber Menschen aus dem vorherigen Umfeld (mindestens zwei der folgenden):
    1. kühle und distanzierte Haltung,
    2. Lügen,
    3. feindselige Haltung,
    4. Angst.
  5. Unverhältnismäßige Selbstkritik an der Vergangenheit vor dem Kult.
  6. Der Gruppe eine exzessive Wichtigkeit beimessen, was im Widerspruch zur Realität steht.
  7. Toleriert und rechtfertigt persönliche Ausbeutung in verschiedenen Bereichen, z.B. beruflich, wirtschaftlich oder sexuell.
  8. Anstieg der täglichen Aktivitäten als Folge des wachsenden Engagements für die Gruppe.
  9. Erleben von maniformer Euphorie oder Enthusiasmus.
  10. Neigung zu monothematischen Gesprächen.
  11. Auffallende Verhaltensänderungen, die mit den Normen oder Gewohnheiten der Gruppe übereinstimmen (mindestens zwei der folgenden Kriterien): a) – bei Kleidung oder Körperpflege, b) – bei der Sprache, c) – bei Hobbies, d) – beim Sexualverhalten.

Literatur

Cubero, P. (2001). „El sectarismo como trastorno psiquiátrico“. In AIS & SCS (Eds.). Libro de Ponencias I Jornadas sobre el trastorno de dependencia grupal en los grupos de manipulación psicológica. Barcelona: 17-24.

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Echeburúa, E. (2003). ¿Adicciones-…sin drogas?. Las nuevas adicciones: juego, sexo, comida, compras, trabajo, Internet. Bilbao: Desclée de Brouwer.

Galper, M.F. (1983). The Atypical Dissociative Disorder: Some etiological, diagnostic, and treatment Issues.  In David Halperin (1983), Psychodynamic Perspectives on Religion, Sect and Cult. Boston: John Wright PSG Inc.

Galanter, M. (1980). „Psychological Induction into the Large-Group: Findings From a Modern Religious Sect“. American Journal of Psychiatry, 137: 1574-1579.

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Langone, M. & Rosedale, H. (1985). On Using the Term Cult. USA: American Family Foundation.

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