Alexander L. DVORKIN

RUSSLAND

Alexander L. DVORKIN

– Professor
– Direktor des „St Irenaeus of Lyon Center of Religious Studies“, Moskau

Sektiererische Entgleisungen im Bereich der Gesundheit
in den Ländern der ehemaligen UDSRR

Nadezhda Antonenko lebt in einem Moskauer Vorort. Ursprünglich arbeitete sie als Leiterin der Jungen Pioniere (eine sowjet-kommunistische Version der Pfadfinder/innen) in Ferienlagern. Gleichzeitig interessierte sie sich sehr für extrasensorische Heilmethoden und Hexenmedizin. Doch die Sowjetunion ging unter und mit ihr die Organisation der Jungen Pioniere. Bald darauf, im Jahr 1992, hatte Frau Antonenko bezeichnenderweise eine Vision von einem mysteriösen Ältesten in weiß, der ihr sein Zepter gab und sagte, sie müsse Christin werden und Menschen heilen. Zusammen mit diesem unsichtbaren Zepter empfing Frau Antonenko eine Energie, die sie ausfüllte, und sie begann, durch untransparente materielle Objekte hindurchzusehen. Ihre Christianisierung indes beschränkte sich darauf, ihren Wohnraum mit etlichen Ikonen auszustatten und einige Gebete auswendig zu lernen. Zunächst begann sie, Besucher zu empfangen und mit ihnen gemeinsam Gebete zu rezitieren. 1994 fing sie an, melodische Stimmen zu hören, die ihr sagten, sie habe die Gabe, onkologische Erkrankungen zu heilen. Das war der Anfang ihrer aktiven Arbeit.

Heute ist Nadezhda Antonenko die Begründerin und Leiterin des „Nadezhda (Hoffnung) Zentrums für Medizin und Rehabilitation“. Sie ist ständig von Duzenden von Leuten umgeben, die angeblich – vor allem durch sie – von Krebs im Endstadium geheilt wurden. Sie versteht es, Wasser mit der Energie ‚aufzuladen‘, die ihr von dem Ältesten aus ihrer ersten Vision übertragen worden war. Sie verströmt verschiedene Arten von Energie, und je nachdem, um welche Art es sich handelt, wird das ‚aufgeladene‘ Wasser ‚Antonenko-Lösung #1‘ oder ‚Antonenko-Lösung #2‘ usw. genannt. Die eine Lösungsart wird als Nasentropfen, Einlauf oder sogar intravenöse Injektion verwendet. Die andere wird in einem gut verschlossenen, personalisierten Glasgefäß in ihrem Zentrum aufbewahrt. Nach einiger Zeit kann man in diesem Wasser eine Art Wachstum beobachten – Schimmel, Pilze, Bakterienflora oder was auch immer. Das sieht natürlich in jedem Gefäß anders aus. Frau Antonenko sagt, das seien die Krankheiten von jedem ihrer Patienten, die dank ihrer einzigartigen Methoden von den Körpern in die Gefäße transplantiert (teleportiert) worden seien. Die Krankheiten blieben dort, solange die Patienten ihr gehorchten und sich an die Regeln der Gemeinschaft hielten.

Das ist genau der Schlüssel. Der Regeln gibt es viele: So muss beispielsweise der Patient, um gesund zu werden, sein ganzes Haus von Vogelfedern und Daunen reinigen, weil diese Rückstände negativer Energien von toten Vögeln enthielten. Er muss sich aller Bilder entledigen, mit Ausnahme der Portraits und Ikonen von Frau Antonenko. Eine weitere notwendige Bedingung ist es, alle Haustiere loszuwerden, besonders Hunde und Katzen (Antonenko beruft sich dabei auf den Bibelvers „Verdammt sei, wer bei jedweder Art von Bestie liegt“ – Deut 27,21). Besonders schlimm ist auch gelbes Metall im Haus. Antonenkos Vorschlag: Am besten man deponiert es in ihrem Zentrum, damit es niemand findet und in Versuchung gerät, es mit nach Hause zu nehmen.

Es gibt außerdem eine persönliche Diagnostik: Wenn beispielsweise unter den mikroskopisch untersuchten Blutzellen eine gefunden wird, die wie ein Schmetterling aussieht, muss der Patient jeglichen Kontakt mit Schmetterlingen oder gar deren Bilder meiden. Ähnelt eine Zelle der Form einer Flasche, darf der Patient natürlich nicht trinken usw. Es gibt zahlreiche weitere Regeln, doch die wichtigste besagt, dass die Heilkräfte von Frau Antonenko nur wirken, wenn die Person in der Gruppe bleibt. Ungläubige Angehörige können genug negative Energie produzieren, um die Krankheit aus dem Gefäß in den Körper zurück zu verpflanzen. So erklärt Frau Antonenko die zahlreichen Todesfälle unter ihren Patienten.

Doch es gibt auch viele Fälle von Heilung. Das funktioniert so: Nahezu jeder, der in ihr Diagnostik-Zentrum kommt, wird sofort mit Krebs im Stadium IV diagnostiziert. Stadium IV ist inoperabel, die einzig verbleibende Hoffnung der Wunderheiler. Danach vollzieht sich die angebliche Heilung, die Person bleibt in der Gruppe, bricht den Kontakt zu allen Angehörigen und Freunden ab und verbringt fast ihre gesamte Zeit im Nadezhda-Zentrum. Vom Tod eines geliebten Menschen erfahren dessen Angehörige oft erst Monate oder Jahre später.

Und, in jedem Fall, hat Frau Antonenko ein schlagkräftiges Argument parat, das jeden Todesfall innerhalb des Kultes erklärt: In Russland kann so lange nichts Gutes passieren, wie das Wahrzeichen auf dem Wappen der zweiköpfige Adler – bleibt ein genetischer Mutant.

Der Antonenko-Kult ist einer der vielfältigen Heilskulte, die Russland überflutet haben. Medizinische Hilfe ist in diesem Land unzuverlässig und teuer. Daher ist die Mehrzahl der Bevölkerung im Bedarfsfall auf eine sehr rudimentäre staatliche medizinische Versorgung mit niedrigen Etats angewiesen. Diese kann lediglich eine Grundversorgung auf niedrigem Niveau bieten. Für bessere Leistungen muss man zahlen, und zwar viel. Die vielfältigen Werbeversprechungen über Heilverfahren, die ein für allemal alles kurieren können, sowie über neue revolutionäre Methoden ziehen so zwangsläufig die Aufmerksamkeit auf sich. Hinzuzufügen ist hier, dass es in der materialistischen und militant atheistischen UDSSR einen weit entwickelten Wissenschaftskult gab. Den Menschen wurde der Glaube suggeriert, dass Wissenschaft alles vermöge oder in naher Zukunft dazu in der Lage sei, sobald alles entdeckt sein worden sei, was es zu entdecken gibt. Vor diesem Hintergrund brauchen all die neuen Heiler ihre Produkte lediglich in einem wissenschaftlichen (oder pseudowissenschaftlichen) Jargon zu präsentieren. Der Rest ist Marketing.

Die Kulte, die sich des medizinischen Köders bedienen, lassen sich in mindestens vier Gruppen unterteilen:

  1. Die erste Gruppe umfasst Kulte, bei denen Heilung im Vordergrund steht.
  2. Die zweite besteht aus Kulten, bei denen Heilsversprechen wichtiger Bestandteil ihrer Werbeaussagen sind.
  3. Die dritte Gruppe versammelt verschiedene Psychokulte, die unter dem Deckmantel so genannter Psychologischer Kurse in Erscheinung treten und damit den Weg zu Erfolg, Reichtum und Gesundheit zu garantieren vorgeben.
  4. Nicht zu vergessen ist auch die Vielzahl an individuellen Heilern, Hexen, Medizinmännern, Schamanen und Menschen, die behaupten, übernatürliche Fähigkeiten und verschiedene Arten von Energien zu besitzen – all diese werden in Russland ‚Extrasensoren‘ genannt, und sie bieten ihre Dienste an allen Straßenecken feil. Manche dieser Leute haben ihre eigenen ‚Groupies‘, die unter Umständen zu Kultmitgliedern werden. Manchmal sind diese Kulte als Hypnose-, Heiler-, Hexenschulen o.ä. organisiert. Einige von deren Schülern werden dann selbst zu Ausbildern – und so breitet sich der Kult aus.

Lassen Sie uns mit der ersten Gruppe beginnen.

Neben dem Kult von Frau Antonenko finden wir in Russland auch Kulte, die verschiedene Versionen von Reiki praktizieren sowie die New Age-Heilskulte der ‚Ayurvedischen Medizin‘ (wobei dieser Begriff manchmal auch von der Transzendentalen Meditation verwendet wird, die wiederum zur zweiten Gruppe gehört), okkulte Homöopathie, Pyramiden, Klangschalen, Aromen usw., daneben solche russischen Kulte wie der von Mirzakarim Norbekov, die ‚Akademie für Stirnprobleme‘ von Boris Zolotov, die Schule der DEIR (energetisch-informationelle Weiterentwicklung des menschlichen Wesens), die ‚Schule des Lhasa‘ und viele weitere Gruppierungen.

Ein paar Anmerkungen zu den ersten beiden:

Herr Mirzakarim Norbekov (ein vor 10 Jahren nach Moskau gezogener Usbeke), der behauptet, Sufi-Medizin zu praktizieren und sich als Doktor vieler Wissenschaften und Künste sowie als Akademiker vieler Akademien ausgibt, bietet ein Lern- und Übungssystem an, mittels dessen vollständige Gesundheit erreicht werden könne. Am Ende des ersten Zyklus müssen Sie sich ein für alle Mal Ihrer Brille entledigen. Die Argumentation: Alles hängt von Ihnen ab. Wollen Sie ein dummer Idiot sein und an Ihren Krankheiten festhalten oder wollen Sie gesund sein? Entscheiden Sie sich für letzteres, müssen Sie dem großen Norbekov glauben und sich seiner Führung anvertrauen. Dabei müssen Sie ein paar sehr merkwürdige Praktiken erlernen, wie z.B. mit den Augen atmen. Das wichtigste aber ist: Sie müssen glauben. Tun Sie dies, so wird sich Ihr Körper unter Umständen gemäß diesem Glauben verhalten. Tatsächlich kommt dies der Hauptidee der Neo-Pfingstbewegung, über die wir etwas später noch reden werden, sehr nahe. Auf der fortgeschrittensten Stufe bietet Herr Norbekov die vermeintliche Heilung von Impotenz an. Wie ehemalige Mitglieder berichten, werden in diesen Kursen so genannte ‚Tantrische Praktiken‘ ausgeübt – ein Euphemismus für Gruppensex in allen Formen und Varianten.

Boris Zolotov, der Gründer der ‚Akademie für Stirnprobleme‘, ist für seine Seminare bekannt, die – so verspricht er – Männer oder Frauen komplett verändern können, sie ein für allemal psychisch und körperlich gesund machen und sie zusätzlich in triumphierende Gewinner im Leben verwandeln. Die Seminare sind lang (bis zu 10 Tage) und mit einem Zusammenleben auf engstem Raum (Wohnung oder angemietete Halle) mit einer großen Anzahl an Menschen, die alle in diesem Raum zusammengepfercht sind, verbunden. Die Teilnehmer müssen dort essen und schlafen sowie alle Aufgaben des Seminars erfüllen. 
Hin und wieder wird die Gruppe nach draußen geführt (normalerweise spät abends), um einige Frischluftübungen zu absolvieren oder ein angemietetes öffentliches Dampfbad zu besuchen. Den Rest der Zeit verbringen sie im Haus damit, merkwürdige und erniedrigende Dinge zu tun, oft körperlich von Herrn Zolotov und dessen Assistenten (die er unter ihnen rekrutiert hat) missbraucht, um gleich anschließend von ihm Umarmungen und Zärtlichkeiten zu erhalten. Mit den Seminaren sind eine Menge sexueller Aktivitäten verbunden, die üblicherweise von den Personen praktiziert werden, die Herr Zolotov aus den vorderen Reihen der Menge auswählt. Hin und wieder lässt er auch Menschen vor aller Augen masturbieren. Manchmal lässt er sie kämpfen, um sie dann auf sein Kommando hin das Kämpfen einstellen und stattdessen miteinander Sex haben zu lassen usw. Oft zeigt Herr Zolotov selbst allen, wie guter Sex funktioniert – vorzugsweise mit den hübschesten Seminarteilnehmerinnen. Es ist offensichtlich, wie diese Praktiken die Psyche eines Menschen brechen und ihn oder sie zu einem puren Werkzeug in den Händen Zolotovs oder eines anderen Kultmeisters machen können.

Doch der sicherlich bekannteste, am weitesten entwickelte und einflussreichste Kult dieser Art ist der von Porfiry Ivanov. Dieser Mann (1898 – 1983) brachte seine eigene Idee ins Spiel, wonach ein Mensch zum Erreichen des ewigen Lebens lernen muss, ohne Kleider, Essen oder Trinken zu leben. Wenn Sie lernen, ohne Ihre natürlichen Bedürfnisse zu existieren, leben Sie länger und immer länger. Herr Ivanov, ein halbgebildeter Mann, bei dem eine Schizophrenie im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden war, lief im Sommer und im Winter einzig mit knielangen Boxershorts bekleidet herum und hielt sich selbst für Gott und den Retter der Menschheit. Seine Anhänger mussten sich einer Reihe veschiedene Rituale unterziehen, wie beispielsweise täglich barfuss im Schnee zu laufen, sich eimerweise mit Eiswasser zu überschütten, wöchentlich von Freitag Abend bis Samstag Nachmittag nichts zu essen, nie irgendetwas aus dem Körper auszuscheiden, niemals zu sitzen, in der Gemeinschaft zu leben und zu ihrem Lehrer zu beten (der dennoch verstarb, trotz all seiner Versprechungen). Dies sind nur einige wenige von weit mehr Regeln und Regulatorien. Selbstverständlich ist jede medizinische Hilfe streng verboten – wer all diese Regeln strikt befolgt und zu ihnen beiträgt, werde die perfekte Gesundheit erreichen.

Nach dem Tod von Porify Ivanov spaltete sich die Bewegung in zwei Kulte. Einer, der kleinere von ihnen, wurde von Herrn Ivanovs Witwe geführt und später von deren Erben, während der andere, weit größere, von Yury Ivanov (keine Beziehung zu Porify) geleitet wurde, der sogar die Boxershorts seines Meisters geerbt hatte und diese an speziellen Tagen trug. Von seinen Anhängern wird Yury Ivanov heute „der junge Lehrer“ genannt. Frau Sara Nazarbayeya – die First Lady von Kasakhstan – unterstützt den ersten Ivanov-Kult, während die First Lady von Kirgisistan, Miriam Akayeya, den zweiten unterstützt. Beide Damen führen das System Ivanovs und dessen Regeln eindringlich in den Schulen, Waisenhäusern und Armeen ihrer jeweiligen Länder ein. Versuchen Sie sich nur einmal die Kinder vorzustellen, die all diese Lektionen über sich ergehen lassen müssen! Glücklicherweise wurde dies noch nicht in alle Schulen getragen (der Umbau der Schulbänke ist zu teuer), aber die Eimer mit Eiswasser werden häufig eingesetzt. Und vor dem Ritual müssen alle Schüler und Soldaten ihre Hände erheben und den abwesenden, jedoch immer präsenten Porify Ivanov beschwören: „Lehrer, gib mir Kraft, gib mir Energie!“

Die Zentren der beiden Ivanov-Kulte sind ca. 50 km voneinander entfernt in Lugansk, einer Provinz in der Ukraine, ansässig. Beide leben in geschlossenen Gemeinschaften, bei denen jegliches Privateigentum als Gemeinschaftseigentum gilt. Beide fungieren als Pilgerstätten für Ivanoviten aus allen Ländern der ehemaligen UDSSR. Ihr Einfluss ist in der Tat beachtlich, zumal die Lehre des Porify Ivanov im Lehrplan der Schulen als‚Valeologie‘ (eine Gesundheitswissenschaft) verbreitet wird und bis vor kurzem in jedem russischen Gymnasium unterrichtet wurde. Es waren dies durch und durch okkulte Lehrveranstaltungen, trotz ihres pseudowissenschaftlichen Anscheins. Sie umfassten eine Menge New Age, oft Elemente aus Theosophie und Anthroposophie, manchmal sogar Bestandteile von Scientology und Dianetik – und nicht vernachlässigbar die Ideologie des Porify Ivanov, der so viel über einen gesunden Körper geschrieben hatte („Des Lehrers Körper,“ so schrieb er über sich selbst, „ist die Schönheit jenseits aller Schönheit (…) Er verströmt einen wundervollen Duft, er wurde geweiht. Mit meinem wundervollen Duft werde ich von jedem gebraucht.“). All das wurde den russischen Schülern eingeflößt.

Tatsächlich wurde die Valeologie in breitem Maße vom Fachbereich Valeologie der pädagogischen Universität in Samara (einem russischen Ballungsgebiet an der Wolga) verbreitet, unter dem Vorsitz des „Vaters der jungen Lehrer“, Gennady Ivanov. Der „junge Lehrer“ selbst ist außerordentlicher Professor (Dozent) in dem Fachbereich, während seine Frau Antonina Seniordozentin ist. Ihr Lieblingsthema (natürlich neben Ivanovismus) ist Urintherapie, die sie überall propagiert. Damit Sie sich eine Vorstellung von dem wissenschaftlichen Niveau des außerordentlichen Professors Ivanov machen können, werde ich auf ein paar der Ideen aus seinen Publikationen eingehen. So lehrt er zum Beispiel, dass das Universum eine ätherische Spirale sei. Der Äther, aus dem es besteht, sei „ein lebendiger Strom aus winzigen glitzernden Universumsstürmen, die hierarchisch nach Vibrationen angeordnet sind und sich mit Überschallgeschwindigkeit entlang der geschlossenen polymerischen Spirale bewegen“. Außerdem schreibt er: „Im Bereich des Bermuda-Dreiecks weist die Spirale ein Loch von 6,5 km Tiefe auf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Erde, im Zentrum Australiens, bewegt sich aus der Erde heraus der berühmte Red Rock, der (zusammen mit seinem unterirdischen Teil) die Spitze eines 6,5 km hohen kegelförmigen Körpers bildet. Daraus wird ein neuer Mond werden.“ Und ja, dieser Blödsinn wird noch immer unter Schülern und Studenten verbreitet!

Dank des aktiven Protests orthodoxer Gläubiger wurde Valeologie von den Lehrplänen der Gymnasien gestrichen. Von einem kompletten Sieg kann aber keine Rede sein: Erstens blieb Valeologie an vielen Schulen unter anderen Bezeichnungen als Fach erhalten und zweitens gibt es die Valeologie-Fachbereiche in zahlreichen Universitäten nach wie vor. Das bedeutet, die Bücher werden weiterhin publiziert, die Valeologie-Lehrer werden ausgebildet und natürlich suchen sie nach einem Aktionsradius, wo sie ihre Dienste anwenden können…

Lassen Sie uns nun zu der zweiten Gruppe von Kulten kommen, denjenigen, welche den medizinischen Köder einsetzen.

Bei diesen möchte ich auf ‚die Kirche des Letzten Testaments‘ von Vissarion und die Neo-Pfingstliche ‚Glaubensbewegung‘ etwas näher eingehen, obwohl natürlich viele andere hier auch aufgezählt werden könnten – von Scientology bis Transzendentale Meditation…

‚Die Kirche des Letzten Testaments‘, gegründet von dem ehemaligen Verkehrspolizisten Sergey Torop, welcher behauptet, die letzte Inkarnation von Christus – Vissarion – zu sein, ist wahrscheinlich einer der russischen Kulte, die im Westen bekannter sind. Das Zentrum des Kults befindet sich im Krasnoyarsk-Gebiet im südlichen Zentralsibirien, in der Taiga, wo die aus den Großstädten zugezogenen Anhänger in verschiedenen Dörfern leben und für sich selbst die ökologisch urtümliche Sonnenstadt bauen, in der sie während des und nach dem Weltuntergang leben sollen, welcher – so die Vorsehung Vissarions – kurz bevor steht. Er habe letztes Jahr begonnen und soll im Jahr 2015 vorüber sein.

Überleben wird nur, wer in der Nähe des Messias, auf den ökologisch reinen Ländereien im südlichen Zentralsibirien (das übrigens der Mittelpunkt der Erde ist) lebt und alle seine Regeln befolgt – und derer gibt es viele. Diejenigen, die bis zum Ende ausharren, werden gerettet werden: Ihre Genotypen werden sich bis zu einem bislang ungeahnten Grad verändern: Sie werden sogar Stickstoff, statt Sauerstoff atmen und so die ökologische Katastrophe überleben, die alle anderen Erdenbewohner töten wird, und in ihren veränderten Körpern werden sie ewig leben. Etwa fünftausend Anhänger leben im Krasnoyarsk-Gebiet nahe bei Vissarion – und wahrscheinlich ebenso viele woanders auf der Welt.

Zu den Regeln gehören eine strikt veganische Diät (vegetarische Ernährung ohne jegliche tierische Produkte), spezielle Gebete und Meditation, öffentliche Beichten, lange und erschöpfende Wallfahrten und sehr viel harte Arbeit. Die Diät beschränkt sich nicht auf alle pflanzlichen Produkte: Sogar von diesen sind viele ausgenommen, wie Pilze, Honig, Zucker usw. Auch Wasser ist verboten: Vissarion sagt, dass es auf der Erde kein klares Wasser mehr gibt. Von sich selbst behauptet Vissarion, dass er gar kein Wasser trinkt – lediglich frisch gepresste Fruchtsäfte. Diese Waren stehen natürlich nicht all seinen Anhängern zur Verfügung, besonders nicht den in Armut lebenden. Für diese hat Vissarion eine geniale Lösung: Ein Glas Eigenurin, morgens als erstes getrunken, ist in der Lage, für den Rest des Tages jegliche Schäden zu neutralisieren, die durch das Wasser angerichtet werden.

Natürlich ist jegliche Medizin verboten. Praktiziert wird ‚Ästhetotherapie‘. Gemeint ist damit, dass eine kranke Person früh morgens hinaus gehen muss, um den Ausblick auf die wundervolle sibirische Natur zu genießen. Dieses Fühlen der Schönheit wird umgehend all ihre Krankheiten heilen. Selbstverständlich gibt es unter den abgemagerten, ausgezehrten Menschen eine Menge Gesundheitsprobleme, die breite Mehrheit von ihnen ist als Großstadtbewohner auf die Bedingungen des harten Landlebens nicht vorbereitet. Uns liegen Dokumente über mehrere Todesfälle in der Gemeinschaft vor – Kinder und Erwachsene – alle verursacht durch Auszehrung und fehlende medizinische Versorgung. Doch ich bin sicher, dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt weder Aufzeichnungen über dort geborene Babies noch über alle Menschen, die dort ankommen, um dort zu leben. Daher dürften die meisten Todesfälle der Außenwelt vollkommen verborgen bleiben. Was noch schlimmer ist: Da der Kult sich immer tiefer in die Taiga bewegt, ist die Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten. Die Situation erinnert stark an die in Guyana mit dem tragischen Ende des ‚People’s Temple‘ von Jim Jones.

Heilsversprechen sind ein sehr wichtiges Werkzeug zur Anwerbung von Mitgliedern in die Kulte der Neo-Pfingstbewegung. Viele von ihnen kamen über Schweden nach Russland, über die ‚Word of Life‘– Bewegung Ulf Ekmans‚ kamen einige direkt aus den USA (die Missionen von Benny Hinn, Kenneth Copeland, Kenneth Hagin usw.). Die von der Neo-Pfingstbewegung ausgeübte ‚Theologie des Wohlstands‘ besagt, dass jeder Christ wohlhabend sein muss. Ist sie oder er dies nicht, muss diese Person ernsthafte Probleme haben. Die Versprechungen von mächtigen Wundern und Sofortheilung erscheinen auf allen Plakaten jedes Priesters oder Evangelisten der Neo-Pfingstbewegung. Mit diesen Versprechen werden viele Menschen für solche Versammlungen geködert. Interessant ist, dass die russischen Neo-Pfingstler in den letzten Jahren ihre Werbeplakate so umgestaltet haben, dass diese in Design und charakteristischer Wortwahl so wirken, als kämen sie von der orthodoxen Kirche. Menschen, die beispielsweise sehen, dass die Heilung von dem berühmten ‚Wunderpriester‘ der ‚Kathedrale des Heiligen Geistes‘ versprochen wird und dass er sie ‚mit dem Öl von Jerusalem salben‘ wird usw., denken dabei nicht an einen Kult, sondern an etwas, das von der Kirche kommt, die bei den russischen Bürgern sehr hoch geschätzt wird, und dass es daher ungefährlich ist, dort hinzugehen. Sie kommen also, und bald werden viele von ihnen in dem Kult enden.

Man mag viel erzählen über die hoch entwickelten Gehirnwäschetechniken, die die Neo-Pfingstbewegung in ihren Versammlungen einsetzt. Unter anderem kommt die Erickson’sche Hypnose zum Einsatz – allen Predigern des Kults wurden Elemente daraus beigebracht. All dies führt die Zuhörerschaft in eine Massenhysterie und einen tranceartigen Zustand. In einem solchen Zustand produziert das menschliche Gehirn extreme Dosen Endorphin und Adrenalin, wodurch die Menschen sehr heftige euphorische Gefühle empfinden, vergleichbar mit den Empfindungen eines Drogenkonsumenten.

Interessant ist, dass beim scientologischen Auditing ebenfalls das euphorische Gefühl am Ende des stundenlangen tranceartigen Zustands der Auditing-Prozedur auftreten soll.

Sehr bald schon werden die Menschen abhängig von der Endorphin-induzierten Euphorie und wollen diese immer und immer wieder wiederholen. Natürlich kann das menschliche Gehirn unter einem solchen Extremzustand nicht auf Dauer rund um die Uhr arbeiten. Der Phase aktiver Endorphinsekretion folgt daher eine Phase der Entzugserscheinungen (oder wie Drogenabhängige sagen: der „Affe“), was wiederum dazu führt, dass die Kultmitglieder eine neue euphorische Erfahrung immer stärker herbei sehnen. In dieser Euphorie glauben sie, dass alle ihnen gemachten Versprechen erfüllt worden sind. Gerade wegen dieses Phänomens proklamieren die Scientologen mit großer Überzeugung: „Sie können sagen, was Sie wollen, eins weiß ich sicher: Scientology funktioniert! Es hat mir geholfen! usw“. In Wirklichkeit wirkt es nur insoweit, als der arme Mensch am Ende jedes Auditings euphorisch ist, daher glaubt, dass es wirkt, und entsprechend handelt.

Doch die Neo-Pfingstler haben ein zusätzliches Charakteristikum. Ich nenne es das „Des-Kaisers-neue-Kleider-Syndrom“. Lassen Sie mich das erklären. Gemäß ihrem Glauben hat jedes Wort große Macht. Wenn Sie sagen, dass Sie nicht geheilt worden sind, werden Sie krank bleiben – gemäß Ihrem Wort. Was man tun muss, ist, verkünden, dass die Heilung stattgefunden hat, und Gott dafür danken. Wenn Sie es mit Glauben sagen, werden Ihre Worte Wirklichkeit werden. Je schlimmer sich der Neo-Pfingstler also fühlt, desto größer die Überzeugung, mit der er verkündet, dass die Heilung tatsächlich stattgefunden hat. Und die Worte der Menschen um ihn herum – die auch über ihre wunderbare Heilung erzählen – werden ihn in seinem Glauben noch mehr bestärken, genau wie seine Worte den Glauben der Menschen um ihn herum stärken. Daher das „Des-Kaisers-neue-Kleider-Syndrom“.

Man muss in Betracht ziehen, dass psychosomatische Heilungen durchaus erfolgen – etwa 1/3 aller Krankheiten kann auf diese Weise geheilt werden. Aber es verbleiben zwei andere Drittel. Und deren Glaube ist ziemlich tragisch. Das erinnert mich an die Geschichte eines Doktors der Medizin, der die Heilsverkündungen der Neo-Pfingstler untersuchte. Ein Kultmitglied berichtete ihm, dass seine Frau von Krebs geheilt worden sei. Der Arzt fragte natürlich nach, ob er die Frau und die Befunde ihrer medizinischen Untersuchungen einmal sehen könnte. „Nein,“ kam die Antwort. „Warum?“ fragte der Arzt. „Weil sie gestorben ist.“ „Wann ist sie gestorben?“ „Ein paar Monate nachdem sie geheilt wurde.“

Das ist ziemlich typisch. Und ich bin auf so viele Zeugenaussagen von Spezialisten gestoßen, die besagen, dass es keinen einzigen Fall gibt, wo charismatische Prediger oder Wunderpriester (oder besser Kult-Funktionäre) auch nur einen Fall einer organischen (nicht psychosomatischen) Erkrankung wirklich geheilt hätten.

Es gibt übrigens einen weiteren gesundheitsbezogenen Bereich, in dem verschiedene Kulte gedeihen. Es ist dies die Drogenproblematik und die Aufgabe der Rehabilitation Abhängiger, die von vielen Kulten zu PR-Zwecken eingesetzt wird, um ein akzeptables öffentliches Ansehen zu erreichen und -natürlich – um neue Anhänger anzuwerben. Hinzuzufügen wäre, dass die Kulte normalerweise für diesen Service viel Geld verlangen und außerdem die von ihnen „Rehabilitierten“ als Sklavenarbeiter einsetzen. Sie alle jedoch versprechen eine wundersame Heilung mit einer Erfolgsquote von (üblicherweise) über 90%, und natürlich fallen einige verzweifelte Eltern auf diese Versprechen herein und verkaufen alles, was sie haben, um die Behandlung ihrer Kinder bezahlen zu können. Diese Spekulationen in eine Tragödie unserer Gesellschaft und unserer Familien erweisen sich auf vielen Ebenen als sehr profitabel. Und das hilft natürlich den Kulten oder deren Sympathisanten dabei, in die Schulen zu gehen – unter dem Vorwand, mit den Kindern über die Gefahren der Drogenabhängigkeit zu sprechen, doch solche Gespräche führen immer zur aktiven Anwerbung.

Der Köder der Drogenrehabilitation wird am aktivsten eingesetzt von der Neo-Pfingstbewegung, den Moonies und den Scientologen (deren berüchtigtes ‚Narconon‘). Es gibt Kulte, die ausschließlich unter dem Deckmantel von Drogen-Rehabilitationszentren existieren. In Moskau existiert z.B. die 3HO (‚Healthy Happy Holy Organization‘) als Drogen-Rehabilitationszentrum ‚Kundala‘. Letztere ist sehr offen in ihren Werbebotschaften, die da sagen: „Warum musst Du Drogen nehmen, die Deiner Gesundheit schaden? Wir bringen Dir bei, 24 Stunden am Tag in totaler Glückseligkeit zu leben. Mit den Techniken, die wir Dir in unserem Programm beibringen, wirst Du viel besser high, so dass Du hinterher ganz von selbst nie wieder irgendwelche Drogen nehmen möchtest!“

Das sagt alles. Natürlich sind die von den Kulten genannten Zahlen (über 90%…) eine pure Täuschung. Doch die sehr wenigen Fälle, in denen Menschen wirklich von den Drogen weg kommen, bedeuten nichts weiter, als dass sie von einer Abhängigkeit in die andere geraten. Schließlich kann man genau so süchtig nach Endorphinen werden wie nach Heroin oder Crack. Und anstatt alles Geld für Drogen auszugeben, bringt das neue Kultmitglied all sein Geld in den Kult. Das Ende ist in beiden Fällen dasselbe: der totale Ruin.

Scientology nutzt im Übrigen jede Gelegenheit, um seine Heilsverkündungen zu propagieren. Sie werden an nahezu jedem Katastrophenort scientologische „freiwillige Helfer“ vorfinden, und dies nur wenige Stunden nachdem die Katastrophe passiert ist. Sie versuchen, sich an die Opfer und deren Angehörige heranzumachen und, unter Ausnutzung von deren momentaner Stresssituation, rekrutieren sie sie unter dem Deckmantel psychologischer und medizinischer Hilfe (‚Assistenz‘) für den Kult. Daneben erscheinen die Meldungen über die von Scientology angebotene angeblich großartige Hilfe in den Presseveröffentlichungen des Kults, machen also gute PR, die ihrerseits dann eventuell wieder neue Rekruten in den Kult bringt.

Von Scientology gibt es eine klare Verbindung zum Feld der Psychokulte, von denen Scientology selbst der erfolgreichste und am weitesten entwickelte ist. Tatsächlich bestehen zwischen sehr vielen von ihnen Querverbindungen. Werner Erhart von EST (heute ‚International Landmark Forum‚) hat selbst einige Scientology-Kurse absolviert, die Gründer von Lifespring (und deren Splittergruppe Avatar) wurden in EST ausgebildet, ebenso wie Bill Ridler, der Gründer der ‚World Centers of Relationships‚ (auch bekannt als ‚The Purple Ones‘). Nikolas Kozlov, Gründer des erfolgreichsten russischen Psychokults namens ‚Synton‚ ging sowohl durch Scientology als auch durch Lifespring.

Ein Phänomen, das wir im Rahmen dieses Vortrags fast gänzlich außen vor lassen mussten, ist der Fortschritt und die breite Streuung okkulter Heiler und Medizinmänner, die in Russland und allen Ländern der ehemaligen UDSSR im Überfluss vorhanden sind. Sie agieren legal und ohne von den Behörden daran gehindert zu werden. Ihre Werbung ist überall zu finden – in Zeitungen und Magazinen, auf Straßenplakaten, im Radio und im Fernsehen. Oft findet man ihre Werbung in einer Art PR-Artikel, in dem über eine ‚begabte Frau‘ berichtet wird, die Menschen selbstlos hilft, oder einen pseudo-wissenschaftlichen Fernsehsender der über ein ‚Wunder der Natur‘ berichtet – den Mann, der Krankheiten heilen kann, wenn die Ärzte längst alle Hoffnung aufgegeben haben.

Ich erinnere mich an eine Fernseh-Talkshow, an der ich teilnahm, als ein weiblicher Gast erzählte, wie sie von einem „Extrasensoren“, der direkt dort saß, vergewaltigt worden sei. Aber natürlich gab es keine Zeugen und so konnte sie ihre Anschuldigungen nicht beweisen.

Es gibt noch immer extrasensorische Heiler, die durch die Städte der ehemaligen UDSSR reisen und eine Gesundheitsoptimierung versprechen. Die berühmtesten unter ihnen, Herr Anatoly Kashpirovski und Herr Alan Chumak,waren Anfang der 1990er Jahre fast wöchentlich im Fernsehen. Herr Kashpirovski versetzte Millionen Fernsehzuschauer in einen Trance und behauptete, dass er sie auf diese Weise heilen würde. Selbstverständlich, um vollständig geheilt zu werden, mussten sie persönlich zu ihm kommen, für den Besuch bezahlen und seine Fotos, Bücher usw. kaufen. Herr Chumak seinerseits setzte seine Energie ein, um Wasser, Cremes und Öle ‚aufzuladen‘, was aus diesen Produkten Allheilmittel für jede Krankheit machte. Auch er tat dies übers Fernsehen, wer allerdings höher konzentriertes Energiewasser haben wollte, musste es von ihm direkt kaufen. Beide sind noch immer aktiv und schaffen es, in russischen, ukrainischen, weißrussischen und anderen Provinzstädten ein großes Publikum um sich herum zu scharen.

1996 wurde die Arbeit unseres Zentrums durch ein scheinbar wunderbares Ergebnis gekrönt: Dr. Tsaregorodsev – seinerzeit Gesundheitsminister in Russland – hatte zwei Verordnungen erlassen. Die eine verbot die Anwesenheit jeglicher okkulter oder mystischer Medizin in staatlichen Gesundheitseinrichtungen, während die andere ausdrücklich die Präsenz von jeglichen mit Scientology, Dianetik und/oder dem Namen L. Ron Hubbard verbundenen Methoden im öffentlichen Gesundheitswesen untersagte. Das war natürlich ein Sieg, aber nicht so bedeutsam, wie wir zunächst gedacht hatten. Zum einen hindert die Verordnung Kulte nicht gänzlich daran, in öffentliche Gesundheitseinrichtungen einzusickern. Außerdem praktizieren sie vorwiegend in ihren eigenen Räumlichkeiten, wohin sie Menschen locken können. Und letztendlich ist eine Verordnung kein Gesetz, was bedeutet, dass sie ebenso schnell annulliert werden kann, wie sie unterzeichnet wurde.

Eine andere charakteristische Eigenschaft ist die, dass viele Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen für Multi Level Marketing-Intrigen angeworben worden sind und als Distributoren verschiedenster bioaktiver Nahrungsergänzungen fungieren, die jede einzeln als Wunderkuren beworben werden. Ärzte versuchen hartnäckig, ihre Patienten davon zu überzeugen, diese Wundermittel zu kaufen, weil nichts anderes wirklich helfen würde. Dies ist natürlich eine eklatante Verletzung der Berufsethik. Dem kann man nur entgegensetzen, dass viele Ärzte durch die extreme Armut, in der sie selbst leben, und die extreme Armut ihrer medizinischen Einrichtungen dazu gedrängt werden, zumal sie den Patienten außer einer rudimentären Basisversorgung keine wirkliche Hilfe anbieten können.

Manchmal trifft man sogar auf einen Arzt, der von einem ‚Extrasensoren‘ oder einem der anderen obskuren Heilern, die pseudowissenschaftliche Methoden einsetzen, als Rekrutierer eingesetzt wird. Manche dieser Gauner haben sogar eine medizinische Ausbildung oder einen medizinischen Doktortitel.

Vor diesem Hintergrund kommen wir zu einem sehr ernsten Problem, das bereits von einigen orthodoxen Gläubigen thematisiert wurde: Bis zu welchem Grad sollen wir, sagen wir, die Gesetzgebung gegen die ‚Zeugen Jehovas‘ vorantreiben, die ihren Mitgliedern den Einsatz von Blut verbieten? Könnte sich diese Gesetzgebung, im Falle einer geringen Veränderung der Situation, nicht auch gegen uns richten? So fragen die Orthodoxen. Stellen wir uns vor, dass mir in ein paar Jahren mein Arzt rät: „Ich kann Ihnen hierbei wirklich nicht helfen, aber in unserer Klinik haben wir gerade einen wunderbaren neuen Spezialisten eingestellt, einen Repräsentanten einer alten schamanischen Tradition. Mit seinen extrasensorischen Methoden kann er Wunder vollbringen. Kommen Sie ins Zimmer 66 im 6. Stock, dort finden Sie ihn.“ Ich würde natürlich ablehnen und mich auf meine religiöse Überzeugung berufen. Könnte das zu einer Klage gegen die Orthodoxe Kirche führen oder schließlich gegen jede andere traditionelle religiöse Organisation, deren Mitglieder sich ebenso verhalten? Selbstverständlich ist diese projizierte Situation momentan noch sehr hypothetisch, sie zeigt immerhin die Situation, in der wir leben, und für solche hypothetischen Annahmen besteht ein definitiver Grund.

Ich hatte hier Gelegenheit, nur einige wenige der mannigfaltigen Kulte zu erwähnen, die sich des Köders Gesundheit und Heilung bedienen, um neue Anhänger anzuziehen und anzuwerben. In unserem Zentrum haben wir Dokumente über Hunderte von ihnen, doch das ist nur ein Tropfen im Ozean. Es gibt Tausende von ihnen in den Ländern der ehemaligen UDSSR. Wir tun unser Bestes, wahre Informationen über diese Bewegungen zu verbreiten. Aber selbst mit der Hilfe, die wir dabei bekommen – von einigen besorgten Ärzten, einigen ehrlichen Regierungsangestellten, verantwortlichen Journalisten – reicht dies noch lange nicht aus.
Für jeden Kult oder individuellen ‚Extrasensoren‘, dessen wahres Gesicht wir enttarnen und vor der Öffentlichkeit enthüllen konnten, tauchen mehrere neue auf. Man hat das Gefühl, gegen eine vielköpfige Schlange zu kämpfen: Jedes Mal, wenn man einen Kopf abgeschlagen hat, wachsen zahlreiche neue nach.

Vor ein paar Monaten musste ein Freund von mir einige Tage in einem onkologischen Krankenhaus verbringen. Als ich ihn besuchen kam, sah ich, dass der Zaun vor dem Krankenhaus buchstäblich zugedeckt war mit einer Vielzahl von Werbezetteln, die alle wunderbare Heilung von Krebs versprachen. Ihre Werbeaussagen waren unterschiedlich: manche versprachen Krebsheilung durch die Kraft des Heiligen Geistes, andere erwähnten die versteckten Kräfte der Natur und die dritten sprachen von revolutionären wissenschaftlichen Entdeckungen. Allen gemeinsam war die Behauptung, dass das versprochene Ergebnis eine garantierte Erfolgsrate von 100% habe. Man kann sich vorstellen, dass diese Versprechungen bei Menschen, die von dieser schweren Erkrankung gebeutelt sind, und deren Angehörigen auf offene Ohren stoßen. So lange es also einen Bedarf gibt, werden auch Schwindler und Quacksalber auftauchen und den Bedarf für ihre Zwecke auszunutzen verstehen.

Zusammenfassend muss ich schließlich einräumen, dass ich für die beschriebenen Probleme keine definitive Lösung bieten kann. Eines ist klar: Solange in den Ländern der ehemaligen UDSSR die medizinische Versorgung einer der am meisten vernachlässigten Bereiche auf dem Gebiet sozialer Etats bleibt, wird es auch weiterhin einen fruchtbaren Boden für zahlreiche Kult-Anwerber und okkulte Scharlatane geben, die menschliche Probleme und Tragödien ausbeuten.

Marseille, März 2004